Victor Kossakowskys Film Architecton ist eine bildgewaltige Meditation über die Vergänglichkeit zeitgenössischer Betonarchitektur, rutscht aber allzu oft in einen pathetisch aufgeladenen Fortschrittspessimismus ab.

Vor vier Jahren präsentierte der wahrscheinlich „erste Vegetarier der Sowjetunion“, wie sich der Regisseur Victor Kossakowsky selbst betitelt, seinen Film Gunda auf der Berlinale. In langsamen, respektvollen Schwarz-Weiß-Bildern folgte er den Wegen des gleichnamigen Hausschweins und ihrer Ferkel, wobei sich nach und nach die schiere Brutalität eines Systems herauszuschälen begann: Menschen dürfen Tiere als Dinge behandeln und über ihr Leben und Sterben walten. Ein zurückhaltender, interessierter, ruhiger und gerade darum extrem starker Film.

Die Erwartungen lagen deshalb hoch für die diesjährige Einreichung des Regisseurs: Architecton, so hieß es in der Ankündigung des Festivals, sei eine „epische, intime und poetische Meditation über Architektur“, die einen forschenden „Blick auf den Größenwahn des Menschen und seine prekäre Beziehung zur Natur“ werfe.

Tatsächlich erweitert der Regisseur das menschengemachte Feld der Architektur um ausgreifendere archaische Dimensionen: Eigentlich geht es um Stein und Zeit. Ein gewaltiges Themenfeld ist das und gewaltig sind auch die Bilder, die über lange Sequenzen des Films unter krachendem Getöse auf das Publikum einstürzen. Ultrazeitlupenaufnahmen von Explosionen in Steinbrüchen, deren irre Dimensionen sich erst erschließen, wenn die Teleaufnahmen durch Landschaftstotalen abgelöst werden, und sich ein Panorama eröffnet, das zeigt, wie viel der einst gigantischen Berge schon abgetragen wurde. Immer wieder Nahaufnahmen von in Bewegung geratenen Felsen; Lawinen gleich, die sich in den Abgrund ergießen, der sich schließlich als Kieswerk enttarnt. Steinmühlen brechen dort die großen Felsen in handliches Format, weiter geht es auf Transportbändern durch dunkle Industriehallen, bis aus den ursprünglich großen Felsen Sand wird, und daraus eine zähe Masse: Beton. Wirklich großartige Bilder werden daraus, wenn die feuchten Steinbrocken auf dem Weg zu ihrer Bestimmung auf Schüttelbändern scheinbar anfangen zu tanzen. Der tolle atonale Soundtrack des Musikers und Filmkomponisten Evgueni Galperine macht’s möglich und in solchen Momenten erinnert der Film tatsächlich an Marx’ alte Aufforderung, die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.

Dass das allerdings nicht die wirkliche Stärke des Films ist, obwohl er es ganz brachial proklamiert, wird an den restlichen, leider irgendwie uninspiriert zusammenmontierten „Handlungssträngen“ deutlich: Da wird meditativ der guten alten, antiken Baukunst gehuldigt. Die Ruinen von Baalbek im Libanon waren noch richtige Architektur – nicht die Betonwüsten, die ständig von Erdbeben verwüstet werden können, oder, noch schlimmer, vom modernen Menschen selbst. Als Beweis für diese negative Anthropologie flimmern bereits in der allerersten Szene imposante Drohnenaufnahmen von durch Angriffskrieg und russische Raketen zerstörten ukrainischen Städten über die Leinwand.

Im zweiten zentralen Handlungsstrang verfolgt die Kamera den italienischen Stararchitekten und Designer Michele de Lucchi, der in seinem edlen Landhausgarten bei Schneeregen einen „circolo della vita“, einen Kreis des Lebens aus Naturstein bauen lässt, den danach kein Mensch mehr betreten soll. Wenigstens dort soll die Natur sich ihr Reich zurückerobern. Die beiden Arbeiter, die seinen esoterisch anmutenden Ästhetizismus inmitten absoluten Dreckswetters ausführen, sind in ihrer leicht konsternierten Ratlosigkeit ob des Gebauten die Sympathieträger des Films: „Ja, Herr Architekt. Sehr schön, Herr Architekt“.

Als sich der Kreis geschlossen hat, im Garten wie auch metaphorisch durch erneute wuchtige Abrissszenen, sitzen Regisseur und Architekt sinnierend am Rande des inzwischen sommerlich blühenden „Lebenskreises“, während – irgendwie ironisch – automatische Rasenmäher ihn umrunden. „Glaubst du, die Menschen werden ihn nach deinem Ableben erhalten?“ fragt Kossakowsky nachdenklich de Lucchi und die Antwort steht bereits fest: Wahrscheinlich nicht.

So bedenkenswert und grundsympathisch Kossakowskys und de Lucchis geschichts- und architekturphilosophische Meditationen sind – der Film wirkt auf Dauer ein wenig schal, was auch an einem Zu-Viel des groß angelegten, abstrakten Untergangspathos liegt. Da ertappt man sich des Öfteren bei der Hoffnung auf mehr von der lakonischen Perspektive der schuftenden Gartenarbeiter. Oder gleich wieder die Welt aus der Perspektive von Gunda, dem unabstrakten, sehr menschlichen Hausschwein.


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