All Shall Be Well wird in der Berlinale Panorama Sektion gezeigt. Der Film stellt die Frage, ob Bis dass der Tod uns scheidet auch für die Familie der gestorbenen Lebenspartnerin in Erbfragen gilt.
Was bedeutet es wirklich, Teil einer neuen Familie zu werden? Wie viel kann man geben, damit einem zurückgegeben wird? Was passiert, wenn die engste Bezugsperson plötzlich aus dem Leben gerissen wird und die Gunst ihrer Familie zur entscheidenden Währung wird? Kann man so spät im Leben noch lernen, auf eigenen Füßen zu stehen? Angie, die Protagonistin dieses erschütternden Dramas, sieht sich im letzten Viertel ihres Lebens unerwartet diesen Fragen ausgesetzt, als ihre Lebenspartnerin Pat plötzlich stirbt.
Geschätzt und gut gekannt spazieren Pat und Angie durch den Wochenmarkt des Wohnviertels in Hongkong, in dem sie zusammen in Pats Eigentumswohnung leben. Die Vorbereitungen für das Mondfest-Essen mit Pats ganzer Familie sind in vollem Gange. Die Zuschauenden sind eingeladen, einen Einblick in das harmonische Zusammensein der beiden zu bekommen und die Familie kennenzulernen. Zwar scheint es durchaus Konflikte bei den einzelnen Paaren zu geben, so muss beispielsweise Pats – ebenfalls dem Senioren- Alter nahe – Bruder Nachtschichten als Park-Assistent einlegen , doch die behagliche Wohnung kann ein sicherer Hafen für alle werden und das Fest verläuft ohne Konflikt. Die beiden kümmern sich sogar um ihren erwachsenen Neffen, dem noch schnell ein Geldumschlag für die Autoreparatur zugesteckt wird.
Doch Pats tragischer Tod spaltet den Film in ein harmonisches Davor und ein tieftrauriges Danach: Angie ist tief getroffen, bewegt sich zunächst nicht vom Sofa weg und lässt sich von Pats Familie umsorgen. Als jedoch klar wird, dass Pat kein Testament hinterlassen hat und aller Besitz an ihren Bruder übergeht, frisst sich die Gier in die Beziehung zwischen der bisher gut situierten Angie und der geringverdienen Familie ihrer verstorbenen Gefährtin.
All Shall Be Well erinnert durch seine ambivalenten Charaktere und langsame, aber tiefberührende Erzählweise an den vergangenes Jahr erschienenen amerikanisch-koreanischen Film Past Lives, geht jedoch noch viel tiefer. Hier spannt sich ein Konflikt über Familie, Klasse, Anerkennung der eigenen Sexualität und Beziehung sowie Verantwortung gegenüber den eigenen Nachkommen auf, der wohl niemanden kalt lassen kann.
Gerade weil die Art der Beziehung zwischen Pat und Angie zwar früh impliziert, aber bis zuletzt nicht explizit belegt wird, wirkt ihre Bindung noch bedeutender. Die beiden verbindet zuallererst eine grenzenlose Freundschaft, die der ganze Kinosaal spüren kann. Deshalb geht die Ungerechtigkeit, die Angie – respektive auch der verstorbenen Pat – angetan wird, noch viel näher. Doch ist der Regisseur Ray Yeung viel zu versiert, um eine simple Böse-Gut-Dichotomie zu entwerfen, in die irgendeiner dieser (man möchte fast sagen:) Menschen passen würde. Denn der Bruder Pats ist kein schlechter Mensch, auch er mag Angie sichtlich, spürt aber den Druck seiner Armut und das Bedürfnis, seinem Sohn einen Ausweg aus der Misere bieten zu können.
Dem Film gelingt etwas, das den meisten familienzentrierten Filmen die Glaubwürdigkeit nimmt: Die Vergangenheit, die Angie und diese Familie verbindet, liegt in jeder Szene. Angie hat Pats Neffe und Nichte aufwachsen gesehen, sie zu einem Teil erzogen. Dafür lieben die beiden sie, brauchen das Geld des Erbes jedoch auch dringend. So überwiegt die Gier letztlich gegen die Zuneigung. Angie hatte nie eine Chance, entwickelt sich jedoch über den Film zu einer ruhigen, sicheren und resilienten Heldin.
Wer die Chance bekommt, dieses Meisterwerk auf der Berlinale zu sehen, sollte sie unbedingt wahrnehmen. Etwas Vergleichbares im derzeitigen Kinoprogramm zu finden, dürfte nicht zu schaffen sein.
Foto: © Mise en Scene filmproduction @Berlinale Stills