Ein Sprung ins Jahr 2022: Bei der Langen Nacht der Wissenschaften an der HU sorgt die Frage nach dem biologischen Geschlecht für neuen Schwung im Cancel-Culture-Diskurs. Aber wer cancelt hier wen?
CN: Wiedergabe TIN*-feindlicher Äußerungen und gewaltverherrlichender Sprache.
Ein Tag an der Uni im Jahr 2022 geht zu Ende. Mein Seminar ist vorbei und ich stratze durch das Foyer auf die Türen zu: Hauptausgang der Dorotheenstraße 24, “DOR24”. Draußen auf dem Plateaubereich bleibe ich obligatorisch stehen, um nach Kommiliton*innen Ausschau zu halten. Hier sammeln sich meistens kleine Grüppchen nach den Lehrveranstaltungen, obwohl direkt davor eine kleine grüne Wiese liegt (Update 2024: Wiese under construction!).
An diesem Tag stehen wir zu fünft auf dem Plateau. Doch irgendwas ist heute anders. Schräg gegenüber auf dem Hegelplatz parkt ein Transporter der Polizei. Auf den Treppen stehen zwei oder drei Menschen mit großen Kameras. Als wir irgendwann die letzten auf dem Plateau sind, bewachen plötzlich zwei Security-Personen den Eingang zum Foyer der DOR24. Einzelne Studis, die gerade ankommen und zu ihren Lehrveranstaltungen wollen, werden angehalten und müssen ihre Taschen öffnen. Verwundert schauen wir uns an. Mittlerweile sind es mehr Menschen mit Presse-Ausstattung geworden. Wir vermuten, dass der Trubel etwas mit dem zu tun hat, was hier an der HU in den vergangenen Tagen geschehen ist.
Alles begann kurz vor der Langen Nacht der Wissenschaften (LNdW). Die LNdW-Programmplaner*innen der HU wollten die Biologin Marie-Luise Vollbrecht im großen Saal des Hauptgebäudes am 02. Juli 2022 ihren Vortrag “Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt” halten lassen. Okay, eine promovierende Biologin spricht über Biologie an einer Universität. Klingt akzeptabel – obwohl alleine das Wortspiel “(Ge)schlecht” auf eine subjektive Meinung hindeutet. Nachdem dieser Programmpunkt bekannt wurde, sehe ich auf dem Campus plötzlich Flyer herumliegen, auf denen zu einer Demonstration gegen die Einladung Vollbrechts und das Vorgehen der Uni aufgerufen wird.
Die Vorvorgeschichte: Am 01. Juni 2022 veröffentlichte Vollbrecht zusammen mit den Wissenschaftler*innen Rieke Hümpel, Uwe Steinhoff, Antje Galuschka und Alexander Korte einen Artikel in der WELT (bekannt für qualitätsjournalistische Meisterstücke, bitte nicht). Titel: Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren. Der Untertitel: “Transgender-Ideologie in der ‚Sendung mit der Maus‘“, Videos zu Penisentfernung oder Drogen-Sex: Fünf Gastautoren, Biologen und Mediziner, haben Beiträge des öffentlich-rechtlichen Rundfunks analysiert. Ihr Vorwurf: “ARD, ZDF und Co. verfolgten eine bedrohliche Agenda.” Dazu gibt es ein Foto der “Sendung mit der Maus”. Eine bedrohliche Agenda ist auch auf Vollbrechts Twitter / X-Account zu erkennen. Dort äußert sie sich extrem TIN*-feindlich. Sie bezeichnet beispielsweise die transidente Soziologin Dr. Dana Mahr als “pissigen Soziologen”, nachdem Mahr auf Twitter eine Veranstaltung über ihre Forschung an der Universität Erfurt ankündigte. Außerdem verfasste Vollbrecht Tweets darüber, dass Transmenschen “keine legitime Opferkategorie des Nationalsozialismus” seien, da sie eine Wahl gehabt hätten, ob sie verfolgt werden würden. Und sie phantasierte beispielsweise über “Fetische” und nannte dabei Kastration. Als sie gefragt wurde “Welche Art?”, schreibt sie “Mehr so rostige Gartenschere Stück für Stück”. Der WELT-Artikel wird von der Nachrichtenseite queer.de als menschenverachtend und transfeindlich beschrieben.
Problematisch dabei ist… I don’t know where to start! Die HU bot Vollbrecht als Wissenschaftlerin bei der LNdW eine große Bühne, durch ihren politisch motivierten Vortrag ihre [hier geeignetes Adjektiv einfügen] Agenda vorzubringen. Die Organisator*innen des LNdW-Programms hätten zunächst beim Titel des Vortrags stutzig werden sollen, denn Vollbrecht promoviert zu einem ganz anderen Thema. Sie untersucht die Folgen des Sauerstoffmangels für die Vermehrung von Gehirnzellen, die Neurogenese und die kognitive Leistung bei elektrischen Fischen. Dann hätten sie ebenfalls den erwähnten Artikel und ihre Tweets bemerken können. Mindestens hätten die Organisator*innen gegenpositionelle Vorträge organisieren und einen wissenschaftlichen Diskussionsraum bieten müssen. Dies wäre auch wichtig gewesen, da sich Vollbrechts Aktivismus in einer unter anderem gewaltvollen und unwissenschaftlichen Art gegen marginalisierte Gruppen richtet.
Obwohl sich die HU „von dem Artikel und den darin geäußerten Meinungen ausdrücklich“ distanzierte, da sie „nicht im Einklang mit dem Leitbild der HU und den von ihr vertretenen Werten“ stünden, geschah vorerst nichts. Der HU-RefRat (gesetzlich AStA) kommunizierte diese Kritik mehrmals mit der HU-Leitung. Nachdem keine Reaktion auf die Kritik folgte, kündigte der Arbeitskreis kritischer Jurist*innen (AKJ) einen Protest vor dem Hauptgebäude am 02. Juli 2022 an. Anstatt die Kritik umzusetzen oder in einen Austausch mit dem AKJ und RefRat zu gehen, sagte die HU-Leitung den Vortrag aufgrund von Sicherheitsbedenken ab. Der damals kommissarische Präsident der HU, Peter Frensch, erklärte später, dass er die Unterstützung der Polizei abgelehnt hatte, da dies für die Sicherheit nichts genutzt hätte. Oder wie er es dann im Marketing-Slang formulierte: “Er wolle kein Exempel statuieren, dass die Lange Nacht der Wissenschaften nur mit polizeilicher Hilfe stattfinden könne.” Cancel Culture von ganz oben!? Die HU-Leitung hatte mit der “Absage aus Sicherheitsgründen” geschickt die Aufmerksamkeit von ihrem eigenen Fehlverhalten auf den mit Fackeln und Mistgabeln bewaffneten Mob abgelenkt. Vorerst ging diese Strategie auf. Denn auch Vollbrecht stellte sich mit dem drohenden “Cancel-Culture”-Zeigefinger gegenüber der BILD hinter die HU: “Das Einknicken vor radikalen gewaltbereiten Aktivisten, die kein Verständnis von Biologie haben, ist verständlich, aber alarmierend”. Ausgerechnet Vollbrecht betont gegenüber der BILD, dass nicht mehr von einer sachlichen Debatte gesprochen werden könne, wenn Veranstaltungen aus Angst vor Gewalt abgesagt würden. Aber um welche Angst vor welcher Gewalt geht es hier eigentlich, Frau Vollbrecht?
Entgegen der Prophezeiungen verlief die Demo friedlich. Die HU-Leitung wollte sich dann dem Vorwurf der Zensur stellen, indem der Vortrag mit anschließender Diskussion nachgeholt werden sollte. Doch die Ankündigung des Nachholtermins wurde sehr verhalten verbreitet. Am 13. Juli wurde eine Rundmail der HU verschickt, in der darum gebeten wurde, am 14. Juli im Gebäude DOR24 ab nachmittags möglichst nicht mehr den Haupteingang zu nutzen, da es eine größere Veranstaltung geben würde. Um welche Art der Veranstaltung es ging, wurde mir erst klar, als wir auf dem Plateau standen. Heute wird also der Vortrag von Marie-Luise Vollbrecht nachgeholt. Wir wären gerne spontan zum Vortrag gegangen. Doch die Security-Personen ließen keine Personen ohne Anmeldung mehr zu. Dabei sei der Saal nicht einmal voll gewesen, wie wir später erfuhren. Die Menschen, die danach noch zur anschließenden Diskussion wollten, mussten zum Campus Nord wechseln. Seltsam, irgendwie so unnötig aufwändig.
Vollbrecht hatte nicht mehr an der Diskussion teilgenommen und auch direkt nach ihrem Vortrag keine Fragen erlaubt, da dieser „korrekt und […] nicht ‚kontextualisiert‘“ werden müsse. Science at it’s best! Aber immerhin schien die HU zufrieden mit sich. Dass der Vortrag nachgeholt werden sollte, wurde vorher überdeutlich kommuniziert. Aber die konkreten Informationen zu eben diesem Nachholtermin wurden so verhalten wie möglich unter die Student*innen gebracht.
Die Ereignisse an der HU um die LNdW 2022 zeigten verfehlte wissenschaftliche Diskussionskultur. Der damals kommissarische Präsident der HU, Peter Frensch, gab später Fehler in der Kommunikation zu. Und Vollbrecht klagte gegen die HU. Im Dezember 2023 gab ihr das Gericht in einem noch nicht rechtskräftigen Urteil Recht. Das Gericht sieht in der Pressemitteilung, in der sich die HU damals von Vollbrechts transfeindlichen Äußerungen distanziert hatte, Vollbrechts Persönlichkeitsrechte durch zu pauschale Formulierungen verletzt. Das Urteil bezieht sich auf den Satz, in dem sich die HU „von dem [WELT-]Artikel und den darin geäußerten Meinungen ausdrücklich“ distanzierte, da sie „nicht im Einklang mit dem Leitbild der HU und den von ihr vertretenen Werten“ stünden. Wie der RefRat berichtete, nutzt Vollbrecht auch einschüchternde Direktnachrichten an Personen und droht mit einer Klage, sollten diese Nachrichten öffentlich gemacht werden. Da sie durch ihre Prominenz Spenden für rechtliche Auseinandersetzungen sammeln konnte, sind solche Klageandrohungen kein leeres Versprechen. Es bleibt abzuwarten, ob sich das Urteil gegen die HU noch ändern wird.
Foto: Amelie Gante
Anmerkung der Redaktion: Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben lediglich die persönliche Sicht der Autor*in wieder.
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