Der in der Sektion Panorama präsentierte Spielfilm des 31 Jahre jungen Michael Fetter Nathansky überzeugt durch brillante Dialoge, fantastisch besetzte Hauptrollen und Authentizität in jeder einzelnen Szene.

Alle die du bist beginnt so dermaßen schräg, dass die Zuschauerin denkt, sie sei versehentlich in einem Fantasy-Film gelandet. Ein Mann verwandelt sich in einen Bullen, dann in einen kleinen Jungen und dann wieder in einen anderen Mann, der nicht er selbst ist. Dazwischen wird eine Frau gezeigt, aufgelöst, offensichtlich mit ihm in einer engen Beziehung stehend, seltsam. Doch die anfängliche Verwirrung verfliegt genauso schnell, wie sie durch diese paar Bilder kreiert wurde. Es wird verstanden: Die Frau, Nadine (Aenne Schwarz), ist mit diesem Mann, Paul (Carlo Ljubek), verheiratet.

Der Zeitpunkt der Handlung switcht zwischen Anfang der Beziehung und Heute, es wird immer wieder rückblickend erzählt: Die beiden lernen sich bei der prekären Arbeit in einer Kohlefabrik bei Köln kennen, verlieben sich, bekommen zwei Kinder. Nadine hatte schon immer Probleme, sich selbst zu spüren und dissoziiert oft. Die Beziehung zum charismatischen, hingebenden Paul hilft ihr, wieder mehr zu sich zu finden. Nur droht ihr jetzt, nach einem siebenjährigen Zusammensein, der Jobverlust als KfZ-Mechatronikerin. Sie ist dauermüde und gestresst, Paul kann ihr den Druck nicht mehr nehmen. Sie ist dabei, sich zu entlieben. Immer wieder fantasiert sie: Sie sieht Paul als jemand anderen, als kleinen Jungen, manchmal eben auch als Bullen. Mitunter auch als eine ältere Frau, vermutlich Nadines Mutter? Eine Konstante bleibt: Paul übernimmt, egal, in welcher Gestalt er gerade erscheint, die Rolle des Trösters. Das erzeugt teilweise ulkige Bilder – etwa, wenn ein kleiner Junge eine erwachsene Frau in den Arm nimmt und ihr beruhigende Worte zuflüstert – ist tatsächlich aber vor allem eines: unfassbar berührend.

Denn Alle die du bist erzählt die Geschichte einer tiefen Liebe so originell, portraitiert die Figur Pauls in seiner Zartheit und Güte so einfühlsam, die Zweisamkeit in all ihren (titelgebenden) Facetten auf eine selten so authentisch gesehene Art und Weise, dass immer wieder Tränen laufen. Wie soll man damit umgehen, wenn die Liebe vergangen ist, aber der Mensch immer noch so liebenswert? Nadine und Paul verbindet so viel mehr als die gemeinsamen Kinder oder diese Eigenschaften, die Leute nennen, wenn ihnen die Frage gestellt wird, was sie an ihrem Partner lieben. „Humor“ etwa, oder „Treue“. Sie verbindet ein Kampf. Ein Kampf für die Beziehung, dieses schwierige Etwas, was ihnen droht aus den Händen zu entgleiten, und auch ein Kampf für Gerechtigkeit. Als Arbeiter*innen des Kohlewerks versuchen sie, ihre Kolleg*innen für den Protest gegen einen Konzern namens RheinStreams zu mobilisieren, der die Fabrik aufkaufen will, was eine Verschlimmerung der sowieso schon prekären Arbeitsverhältnisse (vor allem der Löhne) zur Folge hätte. Gegen Ende des Films tut sich zunehmend der Eindruck auf, dass Paul in seinem großen Beistand eigentlich nur für die Liebe kämpft, während Nadine sich ins Burnout diskutiert und arbeitet, um bloß nichts fühlen zu müssen.

Interessant und hochoriginell ist das Spiel mit den Verwandlungen Pauls. Was zunächst „nur“ die Symptome einer psychischen Erkrankung zu sein scheinen (die es sicher auch ist, Nadine ist mindestens depressiv), entpuppt sich schließlich als eine Art Zuflucht. Denn die vielen Gesichter, die Nadine in Paul sieht, erscheinen nie als gruselig oder maskenhaft; vielmehr haben sie stets eine beruhigende Wirkung auf sie, und unterstreichen all die Eigenschaften, die sie an ihm liebt (oder geliebt hat). Und immer, wenn sie ihn plastisch als Paul sieht, also in seinem realen Aussehen, kommt Verwirrung auf, Unsicherheit und auch Aggression. „Hast du schon immer so gelächelt?“, fragt Nadine geekelt. Oder: „Hast du schon immer so gerochen? Du stinkst“. Die tiefe Verletzung, die er zwar gut kaschiert, die trotz allem aber klar spürbar ist, tut wirklich weh. Er will nicht wahrhaben, dass sie ihn nicht mehr liebt und geht lieber dreimal duschen, als sich einzugestehen, dass er seine Frau verloren hat. Immer wieder scheint die sich aber auch selbst nicht im Spiegel wiederzuerkennen, was den Eindruck einer großen Hilflosigkeit erzeugt, die in ihrer Tragik schwer erträglich ist. Und trotzdem: Es bleibt ein Film, bei dem man auch lachen muss.

Als besonders hervorzuheben sind auch die ausnahmslos fantastischen schauspielerischen Leistungen. Selbst die Kinderrollen sind so gut besetzt, dass man erleichtert aufatmen kann: Endlich mal keine nervtötend-affektierten Piepsstimmen in Til Schweiger-Manier. Ebenso fügt sich das Kohle-Arbeiter-Thema überraschend gut ein und wirkt nicht gezwungen – eine Region und eine Lebensrealität Deutschlands, von der sonst wenig zu hören ist, bekommt hier eine Stimme. Nathanskys Film ist so gut, dass er wehtut.


Foto: © Contando Films, Studio Zentral, Network Movie @Berlinale Stills