Reifezeit des iranischen Dissidenten und Filmemachers Sohrab Shahid Saless kam 1975 in die Kinos der BRD. Der Schwarz-Weiß-Film, der seine Akustik nur auf natürlich erzeugte Geräusche beschränkt, erzählt die Geschichte eines Schuljungen, der als Sohn einer Prostituierten im Berliner Arbeiterbezirk Wedding lebt und die Monotonie seiner Tage durch Träumereien, Kiez-Beobachtungen und Einkäufe für die blinde Nachbarin füllt.

Die Anfangsszene wird sich im Laufe des Films dreimal wiederholen; sie ist allerdings schon beim ersten Mal keine, die besonders fesselt. Geschweige denn überrascht oder gar schockiert. Das Bild setzt sich aus drei Komponenten zusammen: einem Fenster, durch das mild das Straßenlaternenlicht glimmt, einer leise tickenden Uhr und einem Bett, in dem ein schlafendes Kind liegt. Letzteres erweist sich bald als der neunjährige Protagonist des Films, Michael, der ein für sein Alter viel zu monotones, rundum trauriges Leben führt. Er ist Sohn einer Prostituierten mit großen Geldproblemen, die mitunter sogar in der eigenen Wohnung Freier empfängt – natürlich nur, wenn der Junge nicht da ist, weswegen er den Beruf seiner Mutter auch nur erahnen, nicht aber nennen oder verstehen kann.

Immer, wenn die Uhr vier schlägt, kehrt die Mutter von der Arbeit zurück – auch dieser Vorgang wiederholt sich dreimal, die Handlung umfasst also drei Tage – und schminkt sich weinend ab, schmiert weinend das Pausenbrot für den nächsten Tag, zündet sich weinend eine Zigarette an und schläft weinend ein. Das alles tut sie äußerst leise, um das Kind nicht zu wecken – allerdings hören die mütterlichen Gefühle hier auch schon auf. Denn, und das ist wohl das eigentlich Traurige, sie berührt ihr Kind kein einziges Mal, antwortet, wenn überhaupt, einsilbig auf dessen geduldigen Fragen, schaut durch es hindurch, interessiert sich nicht. Alles, worum sie sich sorgt, ist, dass immer gerade genug auf dem Teller liegt und dass Michael pünktlich zur Schule kommt.

Die Mutter ist alleinerziehend, hat große Geldsorgen, einen würdelosen Job und ist vollkommen depressiv. Das ist gestern wie heute dramatisch, war aber in den Siebziger Jahren, in denen der Film gedreht wurde, thematisch vermutlich noch innovativer, vielleicht auch bahnbrechender, als heute. Im Jahr 2024 ist es nicht unbedingt die Handlung, die den Film sehenswert macht – zumal sie leider sehr erwartbar ist und kaum überrascht – sondern die Aufnahmen des Berliner Wedding. Was damals als arm, verrucht und alles andere als sehenswert galt, wirkt auf die Zuschauerin heute schön und nimmt seltsamerweise nahezu heile Welt-Charakter an.

Und damit sind nicht die alten Dielen und Flügeltüren gemeint, sondern die durchgehende Langsamkeit des Films und die heute vollkommen aus der Zeit gefallenen Begegnungen und Dialoge, die dieser Junge führt. Heute würde ein neunjähriges Stadtkind sicher nicht mehr alleine zum Metzger gehen, und Metzger sind eigentlich auch nicht mehr Teil unseres Wortschatzes. Heute wäre es eher undenkbar, dass ein Kind so viel Freude daran hat, für die alte Nachbarin einzukaufen, um die von ihr geschenkten Münzen sorgfältig ins Sparschwein zu werfen (übrigens ist diese blinde, Michael eher gruselnde Nachbarin eine interessante Figur: Sie schenkt dem Jungen in ihrer Verkorkstheit und notgedrungenen Körperlichkeit letztlich mehr Zuneigung als die Mutter). Und heute würde ein Film über Prostitution (bzw. „Sexarbeit) wohl auch nicht ohne einzige explizite Gewaltszene auskommen. Keineswegs sollte das implizieren, dass „früher alles besser war“; es schafft lediglich ein Bewusstsein für unsere heutige Abgestumpftheit. Ein Film wie Reifezeit, der uns keine tiefere Interpretation abverlangt und einem eigentlich vollkommen wichtigen und legitimen Thema nachgeht (die Rollen sind klar: Die Frau ist ein Opfer, der Junge in seiner Vernachlässigung und Einsamkeit letztendlich auch) scheint da fast langweilig.

Was den Film dennoch sehenswert macht, ist also besagte Entschleunigung, und: die Schönheit des Berliner Sommers. Gerade die Vertrautheit mit der Stadt, in der man selbst lebt, gemischt mit der Verwunderung über die angenehme Leere gewisser Weddinger Straßenzüge schmeicheln den Augen sehr. Sonderbar: Die Wärme des Sommers und sein gleißendes Licht sind trotz der Farblosigkeit dieses Schwarz-Weiß-Films spürbar – und kontrastieren die Kälte, die die bemitleidenswerte Figur der Mutter verkörpert.


Foto: © PROVOBIS FILM / SHAHID SALESS ARCHIVE @Berlinale Stills