Home Berlinale 2024 Herzsprung: Ein märchenhafter DEFA-Film über Liebe, Sehnsucht und Rassismus

Herzsprung: Ein märchenhafter DEFA-Film über Liebe, Sehnsucht und Rassismus

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Der kleine Ort Herzsprung irgendwo im Norden Ostdeutschlands, kurz nach der Wiedervereinigung. Johanna, eine junge Mutter, verwitwet und arbeitslos, ist wie alle um sie herum Opfer der allgemeinen wirtschaftlichen Auflösung. Ihr neues Liebesglück mit dem Fremden wird zu einer rassistisch motivierten Eskalation der Ereignisse führen.

Vom Himmel tanzen schneeweiße Federn, dazu ertönt in engelsgleicher Stimme das Lied „Der schwere Traum“. Doch das poetische Bild, das eine romantische Märchenwelt vorgaukelt, trügt. Irgendwann wird klar, dass es überhaupt kein Schnee ist, sondern die Federn einer geschlachteten Gans, die von Frauen in einer Fabrikküche gerupft wird. 

Glücksuchende, gekennzeichnet von Schicksalsschlägen

Das Melodram „Herzsprung“ (1992) von Heike Misselwitz, aus der Sektion Die Retrospektive 2024: „Das andere Kino“ – Aus dem Archiv der Deutschen Kinemathek, erzählt von dem im Provisorium gelähmten Osten und darin nach Orientierung suchenden jungen Menschen. Die Betriebsküche, in der Johanna (Claudia Geisler-Bading) arbeitet, muss aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage nach der Wiedervereinigung schließen. Die junge Mutter kehrt in ihr Heimatdorf Herzsprung zurück, wo ihr ebenfalls von den Massenentlassungen betroffene, nun arbeitslose Ehemann wartet. Alles ist in Auflösung und Johanna betrachtet ohnmächtig das Geschehen um sich herum: Als ihr Mann, versunken in Selbstmitleid und Alkoholismus, erst alle seine unverkäuflichen Rinder und dann sich selbst erschießt, ist der absolute Tiefpunkt erreicht.

Wäre da nicht ihr Vater (Günter Lamprecht), der den Neuanfang mit Elsa (Eva-Maria Hagen), einer ehemaligen Arbeitskollegin Johannas, wagt. Wäre da nicht Freundin Lisa (Tatjana Besson), die Johanna in das Friseurhandwerk einführt und sogar ihren Salon übergibt, als Lisa nach Südeuropa auswandert und sich damit einen lang gehegten Traum erfüllt. Und wäre da nicht eines Tages der Fremde (Nino Sandow) , in den sich Johanna unsterblich verliebt. Endlich die große Liebe, das große Glück. Aber genauso das Objekt von Aggressionen. Für die männliche Dorfjugend, insbesondere Johannes Verehrer „Soljanka“ (Ben Becker), ist er der verhasste „Ausländer”. Rassismus und Ressentiments eskalieren in einem verhängnisvollen Überfall auf den Fremden

Lisa und Johanna vergessen für einen Abend das trostlose Leben in Herzsprung und machen sich auf zur Disco in der benachbarten Stadt © DEFA-Stiftung / Helga Paris @Berlinale Stills

Selbstbewusst, traumatisiert und authentisch 

„Herzsprung“ ist einer der wenigen ostdeutschen Filme, der sich mit dem Thema der Perspektivlosigkeit nach der Wiedervereinigung und zunehmendem Rassismus auseinandersetzt. Mit Feingefühl fängt das Provinzdrama die Stimmung während der gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen  Umbrüche ein und zeigt soziale Beziehungen auf, die die Protagonisten*innen geformt haben. Hier sind es vor allem die authentischen Frauenfiguren, die den Film so mitreißend machen. Sie sind selbstbewusst und mutig, aber auch schwach. Und sie scheitern, wodurch sie nahbar werden. So steht Johanna bei ihrer Jobsuche oft vor verschlossenen Türen, da ihre Beziehung zu einem Ausländer” missbilligt wird, und trotzdem hält sie zu ihm und strahlt eine unzerstörbare Stärke aus, die aus den äußeren Umständen heraus kaum noch zu erklären ist. Diese Kombination aus Zerbrechlichkeit und Widerstandsfähigkeit, brillant von Claudia Geisler-Bading verkörpert, trägt eindeutig Misselwitzs feministische Handschrift, die durch ihren Dokumentarfilm „Winter Adé“ bekannt wurde, einer Erzählung über das Leben und die gescheiterten Träume von Frauen in Ostdeutschland.

Das junge Glück von Johanna und dem Fremden sieht sich durch Ressentiments der Dorfgemeinschaft Herzsprungs bedroht © DEFA-Stiftung / Helga Paris @Berlinale Stills

Deutsche Romantik als Parallelwelt

Diese emotionale Gratwanderung spiegelt sich auch in der Szenografie des Melodrams wider, das durchweg kraftvolle Bilder schafft. Wie etwa die Episode, in der Johanna in der dunklen Silvesternacht, während des Überfalls auf den Fremden, taumelnd aus der bis auf die Grundmauern brennenden Imbissbude flüchtet. Das ist vor allem der hervorragenden Kameraarbeit Peter Planitzers zu verdanken, der die Nachtszenen in ihrer tiefen Dunkelheit belässt und damit die mysteriöse, gar märchenhafte Atmosphäre verstärkt. Insbesondere die Nachtclubszene, wo rotes und grünes Neonlicht die Grenzwelten zwischen Realität und dem Traumhaften, zwischen Gutem und Bösen auflösen, ist von einer unglaublichen Intensität durchzogen. Die hier beieinander ruhende himmelhoch jauchzende Euphorie von Johanna und dem Fremden und die bis zum Tode betrübte Verzweiflung „Soljankas“ werden hier auf materieller Ebene eindrucksvoll  stilisiert. 

Diese Trugbilder nehmen zudem mehrmals Gestalt in Form der Verrückten (Gabriele Gysi) an, die hier und dort auftaucht und für die innerseelischen Konflikten der Protagonisten*innen zu stehen scheint, die der feindseligen Umwelt durch Flucht in eine Fantasiewelt zu entkommen versuchen. Diese Stilmittel, die tieferliegende Probleme erahnen lassen, erinnern mit den erwähnten märchenhaften Anfangsszenen stark an die deutsche Romantik, da sie mit überhöhten Symbolisierungen als Spiegel des Seelenleides und gleichzeitigem Rückzug ins Traumhafte agieren. Hierbei gibt Misselwitz’ Spielfilm-Debüt nicht alles voraus, es wird nicht alles bis ins Detail ausformuliert, stattdessen ist man als Zuschauer*in mit seiner eigenen Fantasie an dem Unerklärbaren des Films gedanklich beteiligt. 

„Herzsprung“ ist ein sehr einfühlsames Schicksalsdrama, das über Menschen und ihre Hoffnungen nach der Wiedervereinigung erzählt. Sehnsüchte werden versucht zu erfüllen, jedoch klappt es nicht bei jedem, es kann gelingen, aber auch tragisch enden. 


Foto: © DEFA-Stiftung / Helga Paris @Berlinale Stills