Home Kultur “ja nichts ist ok”: Ein 80-minütiger Abriss über unsere entfernte Gesellschaft

“ja nichts ist ok”: Ein 80-minütiger Abriss über unsere entfernte Gesellschaft

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Foto: Thomas Aurin

„Geht es dir gut?“ fragten René Pollesch und Fabian Hinrichs vor zwei Jahren in ihrer Leidens-Revue über Pandemie, Klimakrise und russischen Angriffskrieg. „ja nichts ist ok“ liefert als Psychogramm kaputter Individualisten eine düstere Antwort. 

Raus aus der gegenständlichen Welt, hinein in die groteske Finsternis. Fabian Hinrichs rennt zu Beginn seiner (fast) One-Man-Show auf die Bühne, um genauso schnell wieder hinter dem schweren Vorhang zu verschwinden. Die Scheinwerfer gehen an und da sehen wir ihn, in Badehose und Unterhemd, wimmernd auf dem Boden. Er schreit „Sag es! – Was denn? – Sag es! – Was denn?” und versucht, sich am eigenen Schopf im Swimmingpool zu ertränken. Ein schizophrener Kampf mit einem imaginären Zweiten bricht aus, „Zu kalt!” der Punk-Band Slime scheppert aus dem Off. Es sind noch keine fünf Minuten vergangen, da schneidet sich Hinrichs mit viel Kunstblut und Wehgeschrei die Pulsadern auf, dass es einem kalt den Rücken herunterläuft. Darauf folgt die Rückschau.

Unfähigkeit zur Koexistenz 

Die Bühne dreht sich und das Publikum ist zu Gast in einer von Anna Viebrock (bekannt durch ihre Arbeiten mit Christoph Marthaler) entworfenen Doppelhaus-WG, die so notdürftig ist wie ihre Bewohner*innen. Vier sind es insgesamt, doch nur drei davon treten in Erscheinung. Paul, requisitenlos und derangiert, Stefan, ein zunächst aufmerksamer, dann streitsuchender Hornbrillenträger, und Claudia, erkennbar am rosa Wollpullover und angeblicher Unordnung. Hinrichs spielt sie alle vier selbst, und der unbeholfene Figurenwechsel führt zu amüsanten Momenten. Wenn er zeitweilig die Rolle der entnervten Claudia annimmt, der Mantel des Erzählers nicht auffindbar ist oder er halb nackt über die Bühne rennt, müssen die Zuschauer*innen und Hinrichs selbst über die Umständlichkeit seiner in die Länge gezogenen Metamorphosen schmunzeln.

Stefan und Paul: Erst ein gutes Team, dann abgrundtiefe Feinde © Thomas Aurin

Es werden die typischen Marotten eines WG-Lebens nachgespielt, das lästige Putzen zum Beispiel. Claudia hinterlässt das Bad immer überschwemmt und voller Haare, Stefan hat es satt, sie immer darauf hinweisen zu müssen. Paul hingegen bekämpft seine Angst vor dem Zahnarzt mit Geistesschärfe aus einem Kinderwitzebuch. Für das Publikum ist das ziemlich lustig anzusehen, die WG bringt es allerdings an den Rande eines Nervenzusammenbruchs. Die Eskalationsspirale nimmt jedoch erst richtig Fahrt auf, als begonnen wird, über das Weltgeschehen zu sprechen.

Großes Gesellschaftsganzes im WG-Kleinen 

Man könne nicht einfach schwere Bomben auf Wohngebiete schmeißen, das sei ein Kriegsverbrechen, sagt Stefan. „Doch“, erwidert Paul und fragt, woher Stefan seine Informationen habe. Und er fügt hinzu: „Fick dich! Fick dich! Fick dich!“. Um einander nicht mehr ertragen zu müssen, errichtet Stefan eine Mauer aus DHL-Paketen, bevor alles im vorweggenommenen Kampf am Pool eskaliert. Die allseits gepredigte menschliche Nähe gestaltet sich in dieser WG anscheinend schwierig. Dabei war es gerade noch so harmonisch, beide plauderten im gemeinsamen Wohnzimmer.

Was also ist passiert? Die große Politik geriet in die beschauliche WG, erst ein Krieg, dann noch einer. Im Hintergrund sind Bilder zerbombter Wohngebiete aus Gaza zu sehen. „Die Menschen sprachen darüber, sie waren sich nicht einig“, erklärt Hinrichs als Erzähler im langen schwarzen Mantel. „Etwas veränderte sich, früher konnte man in der WG eigentlich über alles sprechen, jeder mit jedem, jetzt konnte man immer noch über alles sprechen, aber nicht jeder mit jedem. Etwas hatte sich verschoben“.

Zusammen und doch allein

Hinrichs liegt als Paul im Bett und vertraut sich der schlafenden Claudia an. Als Zuschauer*in lauscht man ergriffen seiner Stimme, die die finstere Stille der Bühnennacht bricht. „Ich war ein fröhliches Kind/ Ich bin nicht mehr so fröhlich wie früher. Jaja, aber fröhlich…ich meine, die ganze Welt ist nicht mehr fröhlich. Oder?“. Der Atem stockt, Tränen laufen über die Wange. Da verstummt sogar der sprechende KI-Kühlschrank Bixby, der scheinbar letzte Gesprächspartner in einer Welt, in der wir uns nach Nähe sehnen, aber trotzdem auf Distanz gehen. Ich warte auf den nächsten erleichternden Witz, aber vergeblich. Mit sanften Worten offenbart sich Hinrichs zur Melancholie des Erwachsenwerden und verabschiedet sich von dem kindlichen Miteinander.

Hinrichs steht als vier Personen im ständigen Kampf mit seiner Umwelt, dabei ist er selbst sein größter Feind © Thomas Aurin

Das Ende soll hier nicht verraten werden. So viel sei jedoch gesagt: Die Suche der Figuren nach Gemeinschaft und Liebe erfüllt sich. Polleschs unvorstellbar sensible und aufwühlende Texte und Hinrichs Gratwanderung zwischen hochmütiger Ironie und abgrundtiefer Verzweiflung zeigen mit dem Finger auf unsere zerrüttete Welt. Ein erschöpfendes Anrennen gegen eine Gesellschaft, die kein Wir mehr kann, nur noch Ich.

Gefangen in unserer eigenen Starrheit, initiieren wir immer wieder Kriege, sei es in der Welt oder in den eigenen vier Wänden. Am Ende findet Hinrichs zu Schumanns zarter Klaviermusik und ruhend an Urzeit-Steinen nur Hoffnung in der friedliebenden Welt der Gliederfüßer: „Vor 560 Millionen Jahren war das Leben noch gewaltfrei.“

Zwei Wochen nach der Premiere am 11. Februar kam die Nachricht vom plötzlichen Tod des Intendanten und Co-Regisseurs René Pollesch. Umso eindringlicher waren Zerrissenheit, Abgründigkeit und Einsamkeit, die „ja nichts ist ok“ zum Nachlass und Finale zugleich machen. Ein Abend, der nachwirkt und mich noch länger begleiten wird.

Kommende Aufführungen: https://www.volksbuehne.berlin/#/de/repertoire/ja-nichts-ist-ok


Foto: © Thomas Aurin