Trotz zusammengesetzten Nomen und Unmengen an Adjektiven fehlen mir auf Deutsch manchmal die Worte für diese bestimmte Sache, genau jenes Etwas oder das bestimmte Ding. Doch immer mal schaffen sie es in Schweden mein Gefühl auf den Punkt zu bringen. Im Hindi gibt es ein Wort, für das ich auf Deutsch drei Sätze bräuchte, in Indonesien und Japan werden die Dinge beim Namen genannt und Dänemark bringt mit einem Wort eine neue Kultur in die Welt. Auch wenn sie im Deutschen fehlen und für Wortfindungsschwierigkeiten sorgen, gibt es sie vielleicht in einer der 6.000 anderen Sprachen auf der Welt – die Worte, die in einem alles sagen.
Ikigai – 生き甲斐
Die dritte Club-Mate des Tages ist angebrochen und trotzdem fallen mir die Augen zu, während ich Seite 32 des Seminartextes zum vierten Mal beginne. Ich gebe mir Mühe, dieses Mal nicht nur mit den Augen, sondern so zu lesen, dass auch tatsächlich etwas im Kopf ankommt. Aber es ist nicht nur der letzte Abend, der meinen Kopf auf die Schreibtischkante sinken lässt. Warum lese ich das eigentlich, wenn mir nicht mal meine Mate die Augen öffnen kann? Warum stehe ich dafür um 8:00 Uhr auf? Hat das alles denn überhaupt einen Belang?
Der Blick auf das große Ganze und das Gefühl für die Nützlichkeit dessen, was ich da mache, geht mir gern mal verloren in sich ausdehnenden Semesterwochen. Dann muss ich mich auf die Suche machen, nach meiner verlorenen Motivation. Wo ist hier der Zweck? Und warum mache ich das nochmal freiwillig? Wo ist die Freude hin, die mich immer zu Beginn eines jeden Seminars packt? Und wenn ich sie gerade nicht finde, wie führt dann das was ich mache zu etwas, was mir zukünftig Freude bereiten wird? Im Japanischen gibt es ein Wort für diese Suche und das, was wir in diesen Momenten und eigentlich unser ganzes Leben lang zu finden versuchen – das, was das Leben lebenswert macht – „Ikigai“.
Das Wort „Ikigai“ besteht aus zwei Teilen – „iki“ (leben, lebendig) und „gai“ (Sinn, Wert, Effekt). „Gai“ stammt vom Begriff „kai“, welcher Muschelschale bedeutete. Während der Heian-Zeit (794-1185) waren Muscheln überaus wertvoll, weshalb der Begriff bis heute mit etwas Wertvollem assoziiert wird. Als Ganzes lässt sich „Ikigai“ frei übersetzen mit „dem Sinn des Lebens“, „dem Grund, warum wir morgens aufstehen und immer weiter machen“ oder „der Sache, die das Leben lebenswert macht“.
Hinter dem Begriff steht jedoch ein ganzer Gedankenkreis. Das Konzept baut auf der Suche auf, die mit kleinen Schritten beginnt und auf das Ziel ausgelegt ist, sich selbst zu akzeptieren und zu lieben. Die gleichen Gefühle soll man versuchen auch anderen entgegen zu bringen, so dass ein wechselseitiges Prinzip entsteht, welches eine Vertrauensbasis schafft. Für „Ikigai“ ist jedoch das Gefühl von Harmonie und Absicherung, dass einem die Möglichkeit bietet die kleinen Dinge schätzen zu lernen, entscheidend. Schlussendlich kommt es auf die Fähigkeit an im hier und jetzt zu leben und darin Zufriedenheit zu finden.
Laut dem japanischen Verständnis besitzt jeder Mensch ein „Ikigai“ und es ist liegt in unserer Hand, dieses immer weiter zu suchen und für uns zu definieren. Der Begriff tauchte bereits im 14. Jahrhundert im historischen japanischen Epos Teiheiki auf, aber hauptsächlich im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen und wurde dabei größtenteils auf Kaiser und Nation bezogen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war er hauptsächlich gleichbedeutend mit dem Begriff „Shinigai“ (死にがい), der das bezeichnet, „wofür es sich zu sterben lohnt“.
Ein sogenannter „Ikigai-Boom“, im Sinne eines erfüllten Lebens, kam in Japan erst Mitte der 60er Jahre aufgrund des starken Wirtschaftsbooms auf, welcher zu einem steigenden Lebensstandard führte. In diesem Zusammenhang hatten die Menschen die Möglichkeit, sich freier mit der Frage nach einem erfüllten Leben zu beschäftigen und der „Ikigai-Boom“ hält bis heute an. In den 1960er Jahren beinhaltete das Verständnis des Begriffs entweder eine Steigerung des Wertes für die Gesellschaft oder es ging um den persönlichen Wertzuwachs im Leben.
Heute bezieht sich das Begriffsverständnis meist nur noch auf die persönliche Ebene, was jedoch den Gedanken des persönlichen Beitrags zur Verbesserung der Gemeinschaft keinesfalls ausschließt. Es geht jetzt mehr um den Gedanken aus einem selbst heraus, mit welchem man auf das eigenen Umfeld positiv einwirken kann. Unter Forschenden ist heute die Faszination über die Bewohner*innen der japanischen Insel Okinawa besonders groß, wo vielen Menschen über 100 Jahre alt werden. Es wird angenommen, dass dies auf deren erfolgreicher Suche nach ihrem persönlichen „Ikigai“ beruht.
Der Gedanke in diesem Wort ist die Kombination eines Lebenszwecks mit der Begabung, dem Beruf und der Leidenschaft. In ihrem Buch zu „Ikigai“ beschreiben die Autoren Hector Garcia und Frances Mirrales einen Grundbausatz auf dem Weg sein „Ikigai“ zu finden. Sie fordern uns auf zehn Dinge aufzuschreiben, mit welchen wir in der letzten Woche Zeit verbracht haben. Danach stellen wir uns die Frage, ob diese Dinge unserem Leben einen Sinn geben. Ist es etwas, was ich liebe? Ist es etwas, was die Welt braucht? Ist es etwas, worin ich wirklich gut bin? Ist es etwas, womit ich Geld verdienen kann? Und wenn nicht, ist das, wofür ich bezahlt werden kann etwas, was mein „Ikigai“ finanziell unterstützt?
Auch wenn für einige der Begriff „Ikigai“ dadurch karriereorientiert scheint, geht es vielmehr darum die kleinen Freuden zu leben und dabei das große Ganze im Blick zu behalten, denn nur so kann eine langfristige Zufriedenheit erlangt werden. „Ikigai“ kann sich ständig ändern und die Suche geht unser Leben lang weiter.
Besonders wir Studierenden sollten uns öfter die Zeit nehmen und über unser persönliches „Ikigai“ nachdenken. Warum stehen wir morgens auf? Warum lesen wir Seite 36 des gefühlt hundertsten Seminartextes auch noch? Warum hören wir uns den Sturm an, wenn der Dozent auf Zoom ins Mikro atmet? Denn besonders im Studium fällt es uns nicht immer leicht, den Sinn in dem, was wir tun, zu erkennen.
Sicherlich kann das „Ikigai“ nicht in jedem Lebensschritt erreicht werden, aber wahrscheinlich fällt es uns nur schwer, unsere Aufgaben anzupacken, wenn wir es ganz aus den Augen verlieren. Uns auf das fokussieren, was uns Spaß macht und uns bewusst machen, dass wir Freude an Dingen haben können, die sich weil sie zur Routine geworden sind wie eine Pflicht anfühlen. Wir sollten alle viel häufiger auf die „Ikigai-Suche“ gehen und uns über diese Dinge Gedanken machen.
Und wenn sich das Seminar um 8:00 Uhr am Montag nicht so ganz nach der Erfüllung des Lebenssinns anfühlt, dann ist es vielleicht der Geruch von frischem Kaffee und das gute Gefühl um 10:00 Uhr in dieser Woche schon richtig was geschafft zu haben, wofür es sich um 7:30 aufzustehen und in diesem Moment zu leben lohnt.
„Ikigai“, ein Begriff, welcher im Deutschen fehlt, für die Suche nach dem Sinn des Lebens und dem Gefühl der vollkommenen Erfüllung in Kombination mit der Liebe und der Achtsamkeit für die kleinen Freuden des Lebens.