Der Spielplan der Deutschen Oper war wie selten zuvor – und hier schon des öfteren erwähnt – geprägt von den Werken Richard Wagners. Am Ende der Spielzeit 21/22 kommt nun die große Oper ,,Die Meistersinger von Nürnberg‘‘ zur Aufführung. Bei der Premiere hagelte es jedoch Kritik – ist etwas dran an der Leier vom grandiosen Opernorchester, das die Fehlleistungen der Regisseure auswetzen muss? Eine Annäherung.
Zuerst, worum geht es in der Oper? Wir befinden uns im Nürnberg des Mittelalters, das von einer selbstbewussten Gesellschaft von Handwerkern bewohnt wird, die nebenbei alle ganz passabel singen können und neben einer großen Schar an Lehrbuben auch immer ein Loblied auf sich selbst zur Hand haben. In diese Szenerie kommt der junge Ritter Walther von Stolzing, der sich beim Kirchgang am Johannistag in die Tochter des Goldschmieds Veit Pogner verliebt. Diese Tochter hat jener Pogner aber bereits dem Sieger des morgigen Sängerwettstreits versprochen. Walther aber kennt das strenge und komplizierte Reglement der Meistersinger nicht, ihm gelingt nicht einmal die Aufnahmeprüfung in den Kreis der Meistersinger. Und als wäre das nicht schon genug, steht ihm noch der kleinkarierte Sixtus Beckmesser als Konkurrent gegenüber. In der Nacht besucht Walther seine Angebetete Eva – Beckmessers Werbelied auf offener Straße endet in einer Massenschlägerei.
Wie der Tag des Sängerwettstreits naht, findet sich Walther von Stolzing in der Werkstatt des Doyens der Nürnberger Meistersingerzunft Hans Sachs ein. Mit Sachs‘ Hilfe schreibt Stolzing ein regeltreues Preislied, das am selbigen Tage zur Aufführung gebracht werden soll. Doch da kommt der Konkurrent Beckmesser ins Spiel – er findet den Text und will ihn für seinen eigenen Vortrag nutzen. Es kommt wie es kommen muss: Beckmesser ist überfordert mit dem fremden Text, versingt sich und muss sich geschlagen geben. Stolzing brilliert. Nun könnte alles in bester Ordnung sein, aber Stolzing mag in jugendlichem Übermut nun nicht mehr Teil der Zunft der Meistersinger sein, will ,,ohne Meister selig werden‘‘. Da platzt Großmeister Sachs der Kragen und die Oper endet mit einem großen Loblied auf die Meister und die deutsche Kunst in dem Sachs unter anderem dröhnt: ,,Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst!‘‘.
Keine Götter, keine Rheintöchter und auch kein Venusberg
Völlig Wagner-untypisch gibt es in dieser Oper weder Tote, noch Elemente des Metaphysischen – keine Götter, keine Rheintöchter, kein Venusberg. ,,Humor, dem nicht zu trauen ist‘‘, hat der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus das genannt. Dabei sind die Meistersinger – wie immer bei Wagner – ein Werk der Doppelbödigkeiten und tiefergehenden Bedeutungen. Was steckt also hinter der schrägen Gesellschaft der singenden Handwerker? Nun, einerseits sind die Meistersinger als Satyrspiel auf den ,,Tannhäuser‘‘ konzipiert. In beiden Opern geht es um die große Frage, was nun eigentlich wahre Kunst sei. In beiden Opern soll diese Frage anhand einer Befassung mit dem Thema Liebe gelöst werden. Doch diese Liebe ist nicht unproblematisch.
Während im Tannhäuser die Elisabeth fast als zweite Jungfrau Maria daherkommt, trägt die Tochter des Goldschmieds Pogner die Erbsünde schon im Namen – denn sie heißt (wie sollte es anders sein) Eva. Stolzing als Adam, Hans Sachs als Verweis auf Johannes den Täufer und die zwölf Meistersinger in bester Aposteltradition. Dazu immer wieder Anspielungen auf Bibelstellen in den verschiedenen Preisliedern. Wagner konstruiert die Erlösung im biblischen Sinne dann aber nicht über einen sich opfernden Christus, sondern über den ,,freien‘‘ Walther von Stolzing, der sich gegen die strengen Regeln der Meistersinger auflehnt, für die Kunstfreiheit ins Felde zieht und damit die Engstirnigkeit der Nürnberger Spießbürger enttarnt. Also: ein buntes Themen-Bouquet – ein bisschen Bibel, ein bisschen holzvertäfelte Deutschtümelei, ein bisschen Handwerker-Nostalgie, ein bisschen Kulturevolution und, zack-fertig, eine Wagner-Oper der allerersten Güte.
Eine sehr gewitzte Vergegenwärtigung des Stoffes
Doch wie wird das alles an der Deutschen Oper umgesetzt? Die Inszenierung hat das Dreigestirn Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito besorgt. Diese drei haben den Stoff der Meistersinger auf intelligente Weise in die Gegenwart geholt, indem sie die Oper in den raumhoch-holzvertäfelten Unterrichtsräume der Münchener Musikhochschule spielen lassen. Walther von Stolzing, die Lehrbuben, Eva Pogner – sie alle sind Musikstudentinnen und Musikstudenten. Die Meistersinger kommen als Professoren und Dozenten daher und sogar die Bestuhlung sowie die Tische sehen genauso aus, wie an jeder gewöhnlichen deutschen Musikhochschule. Dabei sind die Meistersinger auch noch allesamt gekleidet wie das feinste Dozenten- und Professoren-Klischee: mal affektiert-existentialistisch mit Rollkragenpullover und Hornbrille, mal gewollt-locker mit Hemd über der Hose und natürlich das obligatorische schlecht-sitzende Cordsakko. Es ist herrlich komisch, wenn die Meistersinger sich mit ihren Lehrbuben ,,beraten‘‘, Partituren studieren und sich überhaupt immer sehr wichtig nehmen.
Dass diese sehr gewitzte Vergegenwärtigung des Stoffes von der Kritik und von vielen ,,Kennern‘‘ Berlins abgestraft und verrissen wurde, ist diesen nicht wirklich übel zu nehmen, enttarnt aber all‘ jene auch in ihrer Unwissenheit über die Strukturen der Musiker*innenausbildung in Deutschland. Wo heutzutage jede*r beliebige Reporter*in auch dazu verdammt ist, Opernkritiken zu schreiben, ist dahingehend nicht mehr zu erwarten. Gerade jene Zuschauenden, die schonmal in einem Seminar an den Musikhochschulen unseres Landes gesessen haben oder sich mit der unsäglichen Institution des ,,Beratungsgespräch‘‘ beim Wettbewerb ,,Jugend musiziert‘‘ bekannt gemacht haben, wissen genau, was Wieler, Viebrock und Morabito mit ihrer Inszenierung kritisieren wollen. Genauso ,,beckmesserisch‘‘, genauso kleinkariert, genauso intransparent wie die Zunft der Meistersinger mit ihrem Reglement sind zuweilen nämlich auch die Bewertungslinien deutscher ,,Jurys‘‘ an Hochschulen oder bei Wettbewerben. Persönliche Animositäten, jahrzehntealte Kränkungen, nicht nachvollziehbare Maßstäbe plagen die deutschen Musik-Studierenden, genauso wie sie Walther von Stolzing plagen – allein, ersteren kommt kein Hans Sachs zur Hilfe.
Runnicles fällt aus – Fiore springt ein
Wer die Abgründe der Musikhochschulen sehr gut kennt, das sind die Musizierenden im Orchestergraben. Dass nicht der große Sir Runnicles (krankheitsbedingt ausgefallen) im Graben der Deutschen Oper steht, fällt natürlich sogleich auf. Und auch, wenn der Drei-Zentner-Mann John Fiore sich nach Leibeskräften abmüht das Orchester zu Höchstleistungen zu peitschen, fehlt an diesem Abend ein wenig die Sicherheit, die man sonst so sehr an dem Orchester der Deutschen Oper schätzt. Gerade beim großen Chorus ,,Wachet auf, es nahet gen der Tag‘‘ scheint Fiore die Koordination zwischen großem Chor und Orchester ein wenig aus der Hand zu gleiten, was dazu führt, dass er Tempo und Intensität des Orchesters drosseln muss, um den Chor nicht ganz zu verlieren. Das schmerzt, weil jener Chor zu den allerfeinsten Filet-Stücken Wagnerianischer Kunst gehört. Dabei ist das natürlich das berühmte ,,Meckern auf hohem Niveau‘‘ – wirkliche tiefergehende Monita sind nämlich eigentlich nicht zu finden, allein – es handelt sich um Nuancen, Details.
Also, summae summarum eine Inszenierung, die sich (wie sollte es anders sein) lohnt und überall dort, wo sie ein wenig ins Selbstreferentielle abzurutschen droht, mit einer wunderbaren Komik daherkommt, die besonders den Musikschul- und Musikhochschulgeschädigten im Publikum eine große Freude bereiten dürfte. Kurzum: Hingehen!
In eigener Sache.
Auf dem Theater pflegt man ab und an halb wehmütig, halb ironisch zu zitieren: ,,Nun, das ist der Lauf der Welt, vom Anfang bis der Vorhang fällt.‘‘ Heute fällt der letzte Vorhang für die Kulturkolumne, die an dieser Stelle für über ein Jahr im treuen Zwei-Wochen-Rhythmus erschienen ist. In dieser Zeit habe ich versucht, kritische Zeugschaft abzulegen über den Zustand der Berliner Kulturlandschaft – dass dabei die Lobeshymnen gegenüber den Verrissen (die es durchaus gegeben hat) deutlich in der Überzahl waren, zeigt einmal mehr, wie gesegnet wir alle mit den Kulturinstitutionen dieser Stadt sind. Egal, ob in den großen Museen, den kleinen Galerien, den drei (!) Opernhäusern, den Sprechbühnen und Konzerthäusern – in Berlin wird Weltklasse geboten. Doch das ist nicht selbstverständlich. Gerade in Krisenzeiten steht die Kultur auf den Streichlisten von Politik und Verwaltung ganz weit oben – dabei hat uns doch gerade die vergangene Spielzeit, die die erste nach der Pandemie war, gezeigt, wie wichtig Kultur für Stadt und Gesellschaft ist. Neben einem herzlichen Dank an die Chefredaktion der UnAufgefordert möchte ich diese Kolumne also damit schließen, an uns alle zu appellieren. Lasst uns den hohen Wert der reichen Berliner Kulturlandschaft erkennen, lasst uns sie aktiv genießen und lasst uns – wo nötig – für sie streiten. Dafür sind Alle gefragt und – es lohnt sich.
Bis bald! Euer Justus.
Foto: Thomas Aurin