Der Berliner CSD gilt als Fest von Queerness und Diversität. Doch beim genauen Hinschauen wird deutlich: Nicht alle bekommen den gleichen Raum. Das muss sich ändern.

Am Samstag werden Berlins Straßen wieder beflügelt von Regenbogenflaggen, Popmusik und Sommerluft sein. Queere Menschen und ihre Verbündeten werden sich in den Armen liegen, das Glitzer auf den Wangen wegen der Hitze ein wenig verschmiert. Denn es ist ein besonders ausgelassener Tag für die queere Community: Es ist Christopher Street Day (CSD). Der Tag im Jahr, der den New Yorker Stonewall-Unruhen und den darauffolgenden Protesten in der Christopher Street gewidmet ist. Die Geburtsstunde der queeren Bewegung.

Der CSD wirkt mit all seinem Konfetti, Seifenblasen und lauten Farben wie ein Ort für alle, die dazugehören wollen. Aber sah man bei vergangenen CSDs genauer hin, verschwamm die vermeintlich diverse Menschenmenge zu einem überraschend homogenen Bild – besonders in in den ersten Reihen. Orte wie der CSD, in denen sich eigentlich alle Mitglieder der queeren Community zuhause fühlen sollten, sind oft dominiert von cis männlichen und weißen Menschen. Auch im queeren Aktivismus sind schwule Männer überrepräsentiert und bestimmen mit ihren Wortbeiträgen die Debatten. Diese Dominanz führt zu einer Schieflage innerhalb der Community, unter der vor allem Frauen, Lesben, nicht-binäre, trans- und agender Menschen (FLINTA) leiden.

Das Patriarchat macht auch vor queeren Communitys nicht halt 

„Community“ bedeutet übersetzt „Gemeinschaft“ und das meint Ankommen und Dazugehören. Trotzdem ist es eine häufige und unbehagliche Erfahrung für FLINTA, wenn sie das erste Mal in vermeintlich queere Orte wie den Berliner Nollendorfkiez treten und sich auch dort deplatziert fühlen. Wenn sich FLINTA auf die Partys ihrer Community trauen, und dort erschlagen werden von der physischen Präsenz von cis Männern. Das enttäuscht und frustriert.

Auf diese Enttäuschung folgt dann meistens die Einsicht, dass queere Communitys nicht frei von den Mechanismen des Patriarchats sind. Auch hier greifen gesellschaftliche Prinzipien von Privileg und Benachteiligung. Denn das Selbstbewusstsein und die Ressourcen, sich Raum, Gehör und Zugänge zu verschaffen, entsteht auch durch das Aufwachsen in einer patriarchalen und rassistischen Gesellschaft. Darum sind es nicht nur einfach Männer, die dominieren, es sind vor allem weiße cis Männer. Wenn das Patriarchat immer noch viele Bereiche des öffentlichen Lebens durchzieht, kann es so diktieren, wer zu Wort kommen darf. Wenn zum Beispiel immer noch Männer die Schlüsselpositionen der Film- und Fernsehbranche besetzen, ist es kein Wunder, dass doppelt so häufig schwule wie lesbische Charaktere auf dem Bildschirm zu sehen sind.

Ein Kampf um Sichtbarkeit

Während der CSD auch für heterosexuelle Menschen zu einer riesigen Straßenparty avanciert ist, wissen wohl die wenigsten, dass am Vorabend traditionell für lesbische Sichtbarkeit demonstriert wird. Dann findet der sogenannte Dyke*March statt, dessen Name sich einer zunächst queerfeindlichen, dann selbstermächtigenden Bezeichnung für Frauen, die Frauen lieben, entlehnt. Bereits vor knapp 30 Jahren fand in den USA der erste Marsch für lesbische Anliegen statt, seit 2013 gibt es ihn auch in Deutschland.

Mehr Sichtbarkeit für Dykes zu erwirken, steht auch nach jahrzehntelangen queeren und lesbischen Protesten weiterhin auf der Agenda. Bisher ist die Lebensrealität queerer Frauen jedoch eng mit Unsichtbarkeit verzahnt. Nicht nur im Film, sondern auch in der Sprache bleiben queere Frauen unsichtbar. So aktiviert die Bezeichnung “homosexuell” in den Köpfen der Menschen immer noch eine mentales Bild von Männern, lesbische Frauen werden sprachlich seltener mitgedacht. Auch queerfeindliche Übergriffe auf Frauen sind nirgendwo sichtbar und tauchen aufgrund ihrer hohen Dunkelziffer seltener in den Statistiken auf.

Die Dinge sollten sich ändern 

Es sollte allerdings auch nicht vergessen werden, dass Sichtbarkeit zwar eine Grundvoraussetzung für ein queeres Selbstverständnis ist, sie aber auch Gefahr läuft, symbolisch zu bleiben. Denn manchmal sind Communitys und deren Schieflagen wie jüngst die rückschrittlichen “Don’t Say Gay”-Gesetze in den USA zwar für alle zu sehen, dies ändert aber nicht zwangsläufig etwas an der strukturellen Diskriminierung, die queere Menschen erfahren. Um realpolitische Anliegen wie beispielsweise die Co-Mutterschaft in einer Ehe zwischen zwei Frauen umzusetzen, braucht es darüber hinausgehenden Aktivismus und Widerstand.

Der Begriff Sichtbarkeit füllt sich dann mit Bedeutung, wenn queere Frauen Orte finden, an denen sie sich sicher und wohl fühlen. Davon gibt es selbst in Berlin wenige, spezifisch lesbische Bars sucht man bis heute vergeblich. Es braucht darum mehr Räume und Initiativen, die auch in der ersten Reihe divers aufgestellt sind. Genauso divers, wie es die ersten Kämpfe in der Christopher Street waren. Dort haben Schwarze trans Frauen die Veränderung angestoßen, für die weiße Männer nun die Früchte ernten. Bis die queere Community jene Vormachtstellungen, die FLINTA und People of Colour in den Hintergrund drängen, hinter sich lässt, wird der CSD neben Pride-Euphorie, Kater und Lady-Gaga-Ohrwürmern auch stets einen schalen Beigeschmack zurücklassen.


Illustration: Céline Bengi Bolkan