Wer spielt hier eigentlich mit wem? Menschen mit Beeinträchtigung erobern die Bühnen des ersten Arbeitsmarktes. Und richten den Scheinwerfer auf ein scheinheiliges Publikum.
Spätestens als Ernie und Bert den Steppenwolf zum bourgeoisen Gastmahl einladen, bin ich hellwach und vollends verloren. Thomas Melle mutet seinem Publikum viel zu. Und das liegt nicht allein an der schillernd-postmodernen Adaption des Hesse-Stücks, sondern vor alleman der außergewöhnlichen Besetzung. Außer…gewöhnlich…
Damit ist die Leitlinie dieses Artikels vielleicht schon im Wesentlichen benannt. Denn die gerade am Deutschen Theater gespielte Neuinszenierung des Steppenwolfes ist mit Juliana Götze und Jonas Sippel mit zwei Schauspielenden mit Downsyndrom besetzt. Die Performance war ein durchweg ambivalentes, aufwühlendes Ereignis. Von humoristischem Kleinkindgehabe über poppig-schräge Techno-vocals bis zu Textstolperern, Rollenaussetzern, sympathischer Impro und schweißgebadeter Erregung. Voller Körpereinsatz, volle Ausschöpfung des Interaktionsrahmens, volle Hingabe bei höchstpersönlicher Akzentuierung. Eine Herausforderung für die Spielenden wie auch für die Zuschauenden. Am Ende eines langen Abends regnet es Standing Ovations. Und als ich benommen von den zu verarbeitenden Denkanstößen und Eindrückenaus dem Saal taumle, gerate ich geradewegs in einen Pulk voller gehässiger Stimmen; die Gleichen, die eben noch applaudiert hatten, ließen sich nun vor dem Saal hemmungslos über misslungene Inklusion aus.
Die Janusköpfigkeit der Inklusion
Es scheint eine gewisse Janusköpfigkeit in der Inklusion am ersten Arbeitsmarkt zu liegen: einerseits zwingen Menschen mit körperlich-geistiger Beeinträchtigung die Mehrheitsgesellschaft, über den zeitgemäße Sinnhaftigkeit struktureller Normierungen zu reflektieren. Und das mit Mitteln von unübertreffbarer Vielfalt; im Stück reichte dies von Humor bis Ekel, von Schamlosigkeit bis Kühnheit, von Kopf bis Fuß.
Andererseits werden sie der Bedrohung ausgesetzt, an den tradierten und sicher viel zu oft moralisch verwerflichen Erwartungshorizonten zu zerbrechen. Diese Inklusion liefe womöglich – wie ihre gegenwärtige Exklusion – auf Kosten der sozio-dynamischen, psychischen, physischen Gesundheit Betroffener. Allenfalls steht jedoch fest: es handelt sich um einen Drahtseilakt zwischen Fremd- und Eigenbetroffenheit, der kein scheinheiliges Publikum duldet.
Irrtümer über Betroffenheit
Vorab muss gleich einmal mit einem simplen Denkfehler aufgeräumt werden: eine Diagnose ist kein Mensch. Wie die Einzelne* ihre Krankheit oder Beeinträchtigung lebt, ist Frage individueller Umgangsweise. Die Betroffenheit zweier Menschen mit Downsyndrom kann sich also vollkommen unterschiedlich ausdrücken. Und gerade diese Vielfalt muss uns vor Augen geführt werden, um als Gesellschaft einen differenzierten Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung zu finden.
Darüber hinaus leben viel mehr Menschen mit anerkanntem, wenn vielleicht auch nicht unmittelbar erkennbarem Behinderungsgrad. Das Statistische Bundesamt geht von einer deutschlandweiten Schwerbehindertenquote von 9,4 % im Jahr 2021 aus. Als schwerbehindert gelten Personen, denen ein Behinderungsgrad von mindestens 50 % zuerkannt wurde. Zu den Arten von Behinderung zählen neben solchen, weithin als Behinderung assoziierten Einschränkungen (wie u.a. Blind- und Taubheit, Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule) auch Suchterkrankungen, geistig-seelische Behinderungen oder auch Brustamputationen.
Reden mit statt über
Die wenigsten geistig-körperlichen Beeinträchtigungen sind angeboren. Die meisten Menschen werden im Laufe des Lebens zu Betroffenen. Ob mit oder ohne Beeinträchtigung: Wir müssen in einer gesamtgesellschaftlichen Betroffenheit denken. Die Gestaltung eines gleichberechtigten Miteinanders ist ebenso wie die Aushandlungsprozesse über Norm und Abweichung, über Rollenvorstellungen, Qualifikationen und Erwartungen an Leistung offen und vielseitig. Solange der erste Arbeitsmarkt am zweiten verdient, macht die Mehrheitsgesellschaft Geschäft am Ableismus. Die Aufkündigung dieses Geschäfts muss auf diskursiver Ebene anfangen. Getreu dem Motto: Reden mit statt über. Denn wo Heimlichkeit und Scham einem offenen Interagieren weichen, ist der Weg für einen weiten Blick auf Gleichberechtigung in allen Gesellschaftsbereichen geebnet.
Der Mut der Mitwirkenden ist mein Hoffnungsfunke für das Jahr 2023. Ein Besuch der Kooperationsprojekte am Deutschen Theater bzw. der Aufführungen des Ramba Zamba Theaters empfiehlt sich unbedingt!
Foto: Arno Declair