Home Kultur Theater Vom Miteinander und Gegeneinander: „Die Mitbürger” am Hans-Otto-Theater

Vom Miteinander und Gegeneinander: „Die Mitbürger” am Hans-Otto-Theater

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Das Hans-Otto-Theater in Potsdam zeigt mit dem Stück „Die Mitbürger“ von Annalena und Konstantin Küspert, wie sehr die Grenzen zwischen den Schauspieler*innen auf der Bühne und dem Publikum verwischt werden können. Das Publikum wird zum mitspielenden Bestandteil der Inszenierung – unerwartet und ohne definierten Anfang.

Nach einer lockeren Begrüßung wartet für jede*n an der Bar auf der Bühne  ein Gratisgetränk der Wahl. Das Publikum hat die Wahl, an Tischen auf der Bühne zu sitzen, wenn es das möchte. Die Stimmung ist entspannt. Erscheinen Gäste verspätet, werden sie herzlich eingeladen, sich zu setzen oder noch ein Getränk zu holen. Der Beginn des Stücks ist entsprechend fließend. Begrüßt wird mit einer lockeren Vorstellungsrunde, wo die fünf Schauspieler*innen als freier Journalist, junge Tischlerin mit Dreadlocks, Teilzeitarchitektin und Mutter der Tischlerin, Life Coach mit esoterischen Ansichten und ihr Mann, ein Professor, vorsprechen. Zusammen sind sie im Verein Mitbürger und an der Versammlung laden sie alle im Publikum ein, mitzuwirken. Mehrmals wird das Mit im Wort Mitbürger betont. Man solle doch miteinander arbeiten und gegenseitig füreinander da sein – die Sichtweisen des anderen verstehen, statt immer nur stur geradeaus zu blicken und egoistisch zu sein.

Verstörende Aussagen als Teil der Kunstfreiheit

So weit, so gut. Kurz darauf wird das Engagement des Publikums gefordert, bevor die fünf Mitbürger*innen ihre politischen Positionen Stück für Stück durchblicken lassen. Die Schauspieler*innen haben Spiele und Fragerunden und erzählen von ihren Erfahrungen und Erlebnissen, indem sie sich mit auf das Sofa im Publikum setzen. So erfährt das Publikum zum Beispiel, dass 52% der Bevölkerung mit der Demokratie unzufrieden sind oder es muss raten, ob ein vorgelesenes Zitat von Hitler oder Gandhi stammt. Gewisse Aussagen stimmen die Zuschauer*innen bereits mulmig, zum Beispiel als fragwürdige Zusammenhänge zwischen Panzer- und Gesellschaftsformen erklärt werden. Ein Großteil des Stücks findet mit dem Publikum statt, so werden die Menschen auch als Besucher*innen in das Theaterfoyer begleitet, wo sie Teil einer Vernissage werden.

Die Irritation und verständnislosen Blicke im Publikum bleiben auch nach der Vernissage, wo sich die ersten im Publikum langsam die Frage stellen, ob das Stück noch einen Plot oder Pointe haben wird und wohin das alles führen soll. Die Verständnislosigkeit im Publikum wächst. Wenn die Rede des patriotischen Professors, der dabei Teile aus Gaulands Reden verwendet, nicht abstoßend genug war, wurde dies auf das Erneute provoziert. Denn der freie Journalist aus Brandenburg stellt die „Mainstream“-Medien in Frage und lässt per Videocall Corona-Demonstrant*innen des rechten Flügels zu Wort kommen. Mehrmals fallen rassistische und antimuslimische Aussagen, woraufhin die ersten aus dem Publikum das Stück verlassen und andere sich fragen, ob sie dem Beispiel folgen sollen. Aber jetzt kommt Bewegung in das Stück: Die alternativ denkende Tischlerin hat genug und beendet es, indem sie die Verbindung kappt und wütend raus stürmt. Während die anderen Schauspieler*innen genervt von ihr sind, atmet das Publikum nach einer Schockstarre endlich auf. Viel Zeit dafür bleibt jedoch nicht. Denn nun hat die Teilzeitarchitektin, die Mutter der Tischlerin, die Bühne. Sie nutzt sie, um altbackene und antifeministische Aussagen zu treffen und ihre Verachtung gegenüber modernen Karrierefrauen kundzutun und aus Rage wirft sie auf der gesamten Bühne mit Kohl um sich. Damit wird das Ende eingeleitet und das Publikum fragt sich, warum es sich den Abend ruinieren ließ. 

Wenn alles aus den Fugen gerät

Doch das Stück ist nicht zu Ende. Die Tischlerin ergreift das Schlusswort und verspottet dabei die Politik, das System und den Lobbyismus. Nun rennt sie aufgebracht und schreiend durch das Publikum, während die anderen versuchen, sie zum Schweigen zu bringen. Das gelingt erst, indem ihre Mutter ihr die Kehle durchschneidet und die Schauspieler*innen sich gegenseitig und sich selbst aufschneiden und verspeisen. Damit wird die Banalität des Stücks endgültig auf die Spitze getrieben, bevor es mit der Aufforderung zum Mittanzen und Plaudern endet. Damit sitzt das Publikum schockiert und ratlos da. Alle versuchen, aus dem Gesehenen schlau zu werden. Wie viel war echt, wie viel gespielt? Wie viel war Satire und wie viel darf die Kunstfreiheit? Die vielen offenen Fragen regen zu Gesprächen mit den Sitznachbar*innen und den Schauspieler*innen an. 

Was im ersten Moment als banal und grotesk sehr unverständlich erschien, erhält nun nach und nach einen neuen Wert und die Zusammenhänge und Gegensätze vom Miteinander und Gegeneinander werden deutlicher. Um sich das Stück von vorne bis hinten anzusehen, ist allerdings eine gehörige Portion Geduld und Toleranz nötig.


Foto: Thomas M. Jauk