Am 19. Februar 2020, vor drei Jahren, ermordete Tobias R. (43) in Hanau neun Menschen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Anlässlich dessen fand am Wochenende bundesweit eine Gedenkveranstaltung statt- auch in Berlin. Die anschließende Demonstration gegen Rechte Gewalt und strukturellen Rassismus zog durch Berlin-Neukölln und Kreuzberg. Eindrücke und Denkanstöße.
Was kann Erinnerung leisten und warum spricht man dabei von Arbeit? In einem Auszug aus dem zum Gedenktag veröffentlichten Statement des Bundesministerium für Justiz heißt es: „Der Anschlag in Hanau bleibt eine Wunde, die nicht verheilt. Auch drei Jahre nach diesem Akt des Terrors bleiben Fassungslosigkeit, Trauer, Abscheu und die Frage: Warum war der Staat nicht in der Lage, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen?”
Diese drängenden Fragen sind auch auf dem Demonstrationszug präsent. Die Stimmung unter den Demonstrierenden auf dem Hermannplatz ist gemäßigt. Es gibt laut Berichten von Augenzeug*innen wie des Ordnungsamts zufolge gibt es keine körperlich-gewalttäigen Ausschreitungen. Nur wenige Einsatzkräfte der Polizei säumen die Straßenecken, an denen die offiziell 6000 Teilnehmer*innen, von den Veranstalter*innen auf knapp 20.000 geschätzt, vorbeilaufen. Auffällig sind vor allem die zahlreichen Ansprechpartner*innen, die mit orangenen Westen für Aufmerksamkeit und Rücksicht füreinander sorgen. Die Organisation, offiziell vertreten durch die Migratifa Berlin, wie Online-Kommunikation (auch im Live-Kontakt via Instagram) ist transparent und direkt. So wurde die Route schon einige Tage vor der Veranstaltung bekanntgegeben und Anfragen auf Instagram zeitnah beantwortet.
Das Gedenken an die Opfer und die Solidarität mit den Hinterbliebenen wird hier vor allem mit einem Stichwort in Verbindung gebracht: Klassenkampf. Parolen, wie „Yallah, Klassenkampf” geben zu erkennen, dass es den Demonstrant*innen vor allem um das Aufdecken von strukturellen Missständen geht. „Denn Hanau war kein Einzelfall. Hanau ist überall”.
Hanau ist überall
Hanau war auch Solingen. Das Gedenken an Hanau weckt die Erinnerung an den rechtsextremistischen Mordanschlag am 29. Mai 1993, bei der ebenfalls fünf Menschen mit Migrationshintergrund ums Leben kamen: Gürsün İnce (*1965), Hatice Genç (*1974), Gülüstan Öztürk (*1981), Hülya Genç (*1984) und Saime Genç (*1988). Auch in diesem Fall haben sich die Hinterbliebenen organisiert und ähnlich dem Slogan #SayTheirNames geschafft, dass die Namen der Opfer nicht in Vergessenheit geraten. Die ritualisierte und gemeinsame Wiederholung der Namen steht in Hanau unter dem Vorzeichen des Zitates von Ferhat Unvar: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.”
Beide Fälle beweisen, dass Personen mit Migrationshintergrund nicht auf den Schutz durch den Staat vertrauen und sich selbst organisieren und gegen Faschismus schützen müssen. In beiden Fällen hat der Staat versagt und konnte keine lückenlose Aufarbeitung leisten. Anders als in Solingen konnte jedoch die Tat in Hanau als das benannt werden, was sie war: ein rechtsextremer Anschlag.
Erinnern heißt Verändern
Die gemeinsame Wiederholung der Opfernamen dient einem weiteren Zweck: „Unser Antirassismus soll den Takt endlich brechen“, heißt es auf der Demo. Viel zu lange habe der Metronom des strukturellen Rassismus und Faschismus den Takt vorgegeben. Ja sogar zu Apathie geführt, die hart zu durchbrechen gewesen sei. An dieser Stelle offenbart sich die transformative Kraft des Erinnerns:
„Mit dem Slogan ,Erinnern heißt Verändern’ verweist die Initiative 19. Februar auf das Erinnern als politisches Moment der Gegenwart, das auf das Potential der gesellschaftlichen Transformationen verweist”, schreibt die Soziologin Encarnación Gutiérrez-Rodríguez in ihrer Analyse zu der Erinnerungsarbeit im migrantischen Feminismus. Dabei aktualisiere das Erinnern als kollektive Praxis Räume für die Selbstorganisierung und gemeinsame Wissensproduktion. Da in diesen Räumen die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen ermöglicht wird, solle die Erinnerungsarbeit nach Gutiérrez-Rodríguez mit der “gesellschaftlichen Anerkennung dieser Bewegungsgeschichte (…) einhergehen, mit einer materiellen, finanziellen und institutionellen Unterstützung von Forschungsprojekten (…) und dem Aufbau von Antidiskrimininierungs- und Antirassismusstellen in allen gesellschaftlichen Organisationen”.
Der Demonstrationszug kommt schließlich gegen18 Uhr auf der Brücke Kottbusser Damm zum Stehen. Die Teilnehmer*innen zerstreuen sich hier, die Ansprachen sind offiziell beendet. Die Parolen aber hallen im Kopf nach und werfen auch Fragen danach auf, wie die Erinnerungsarbeit nun weitergehen kann. Die Demonstration ist wichtiger Knotenpunkt im Kampf gegen das Vergessen und vor allem gegen rechte Gewalt. Transparenz und Sichtbarkeit werden eingefordert und als notwendige Bestandteile des Umgangs mit den terroristischen Anschlägen, aber auch mit alltäglichen Rassismuserfahrungen markiert. Auf vielen Plakaten sind die Gesichter der getöteten Menschen in Hanau zu sehen. Auch das ist Teil der Erinnerungsarbeit, die die Migrantifa leistet.
Trotzdem wurde auch diese Demonstration durch zweckentfremdende Parolen unterwandert. So waren auf den Plakaten der Migrantifa Berlin teils antisemitische Sprüche, wie „Palästina Kurdistan! Intifada Serhildan!” und „Von Hanau bis nach Gaza- yallah Intifada!” großformatig abgedruckt. Die Slogans wirken nicht nur wild zusammengewürfelt, sie machen auch geschichtsvergessene Vergleiche auf und verkennen Tatsachen. Zur Einordnung: In seinem Manifest erklärte der Täter Tobias Rathjen neben Ägypten, der Türkei und Marokko auch Israel zu den Ländern, die vernichtet werden sollen.
Nichtsdestotrotz bleibt die Demonstration ein wichtiger Bestandteil der Erinnerungsarbeit, die – und genau das hat auch die Organisation betont- erfolgen muss. Es ist nicht überflüssig oder kann zu oft gesagt werden. Hanau ist überall.
Beitragsbild: Gizem Önder
Buchempfehlung: Migrantischer Feminismus – in der Frauen:bewegung in Deutschland (1985-2000) | Encarnación Gutiérrez Rodríguez und Pinar Tuzcu