Helikopter, Wassertanks und Tattooguns: Das ist kein Set für ein Reality-TV Format, sondern das Bühnenbild von “Ophelia’s Got Talent” von Choreografin und Regisseurin Florentina Holzinger. Was beide dennoch verbindet und welche Rolle Matrosenkostüme dabei spielen, beschreibt unsere Kolumnistin Malin in ihrer neuen Folge Drama, Baby.

Nicht nur Ophelia spielen, sondern Ophelia sein: Das ist das Motto der Talentshow und des Theaterstücks “Ophelia’s Got Talent” von Choreografin und Regisseurin Florentina Holzinger, das im Herzen der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz, im Großen Saal, aufgeführt wird. Die Show generiert einen massiven Hype. Dieser erinnert an LKW’s von Castingshows der frühen 2000er Jahre, die durch Kleinstädte fahren, um ihre Bühnen aufzubauen, Moderationstischchen und Jurykabinen auszuladen. Um auf 28 Zoll diejenigen Talente zu finden, die singen, tanzen oder Feuer schlucken können – am besten in dieser Kombination/alles zusammen. Im Foyer der Volksbühne tummeln sich seit der Uraufführung im September diesen Jahres immer um sieben Uhr diejenigen, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollen. Dazu gehören nicht nur Fans von Holzingers Arbeit an der Volksbühne, die schon ihrerseits mit “A Divine Comedy” Wellen schlug, sondern auch solche, die zum ersten Mal überhaupt  ins Theater gehen. 

Dass Karten an- und verkauft werden -auch in Theaterfoyers- ist kein Geheimnis, aber der Andrang auf noch verfügbare Tickets um kurz vor halb acht erinnert schon fast an das ekstatische Karten-Suchen vor Tokio Hotel-Konzerten. Die Erwartungshaltung ist dementsprechend  hoch. Beim Betreten des Großen Saals lässt die Bühne, die mit dem eigenen Logo der Talent Show dekoriert ist, zunächst nur erahnen, was sich hinter dem Vorhang verbirgt. In Ankündigung und Aufmachung gleichtHolzingers Abend dem besten Unterhaltungsprogramm um 20:15 Uhr, zu dessen Vorführung sich in den Reihen ganz Berlin versammelt zu haben scheint. Die Antwort auf die Frage danach, was diesen Abend so besonders macht, mündetnach den knapp 2:40 Stunden in einem erschöpften und wortlosen Zucken der Schultern. Was ist passiert?

Wrecking Anchor

Der Anspruch der Inszenierung, eine Ophelia-Werdung abzubilden, durchdringt die einzelnen Szenen des Abends in ihrer Gänze. Sorgsam manövrieren sich die Schauspieler*innen über die Bühne in kunstvollen Choreografien- von Sailor-Dance in Matrosenkostümen in der Gruppe bis hin zur Stuntshow auf einem von der Bühnendecke schwebenden Anker. Maritime Accessoires werden durchgespielt – bis hin auf den Po einer Zuschauerin, die vor den Augen der rund 600 Zuschauenden einen kleinen Anker tätowiert bekommt. Nebst diesem Akt perforiert eine Schauspielerin ihre Wange mit einem Metallkolben. Währenddessen spricht sie von einer erlebten Vergewaltigung durch einen Bekannten. Der Saal ist still. Schmerz und Ekstase werden in das in die Bühne eingelassene Wasserbecken gepumpt, das sich schließlich mit Blut füllt. Der Blick vom Publikum auf die Bühne, die Interaktivität und das fürsorgliche Brechen der Vierten Wand verschwimmen zu einem Spektakel, das keine Kosten und Mühen mehr scheut, keine Grenzen kennt und kein Tabu.

Im Scheinwerferlicht

Und es bleibt die Frage, woraus ein Theater bestehen kann, das eigentlich schon alles gesehen hat. Ein Theater des Extremen, des Ungemütlichen und der Provokationen kulminiert im Programm der Ophelia-Werdung.

Das Unmögliche möglich machen, oder so ähnlich, hat einen doppelten Anspruch. Die gesteuerte Perforation einer Wange, die primär kein Bühnenakt ist, findet nun ganz vorne im Scheinwerferlicht statt. Und so wird nicht nur das Unmögliche möglich, sondern das Unsichtbare sichtbar. Die Kämpfe von Frauen um Sichtbarkeit und “Gehört-Werden” betreffen nicht nur das Theater, aber sie stehen nun auf der Bühne. Und dafür braucht es zwar nicht immer ein maritimes Accessoire, aber es kann damit losgehen.


Foto: © Nicole Marianna Wytyczak