Annie Ernaux bricht mit „Das Ereignis” ein literarisches Tabu, indem sie ihren Schwangerschaftsabbruch 1964 zum Gegenstand macht. Nach der deutschsprachigen Uraufführung des Textes im letzten Jahr in Hamburg hat das Berliner Ensemble nun eine eigene Inszenierung vorgelegt. Regisseurin Laura Linnenbaum lässt darin das Publikum sich selbst spiegeln.

Die Bühnenrückwand des Neuen Hauses im Berliner Ensemble ist mit glänzender Folie überzogen. Es ist die Sorte Folie, die man um unterkühlte Personen wickelt, sie aufwärmt und zu schützen versucht vor weiteren Übergriffen auf ihren Körper. Hier hängt sie nur von der Decke herab. Überall im Raum reflektiert sie das Licht – es ist fast zu hell, um direkt hineinzuschauen. Durch diese Wand brechen die drei Schauspielerinnen des Abends. Sie sind alle Annie. 

Annie Duchesne ist Anfang zwanzig, als sie 1963 erfährt, dass sie schwanger ist. Als Literaturstudentin, die als Erste ihrer Familie einen akademischen Abschluss erreichen kann, besteht für sie kein Zweifel darin, dass sie die Schwangerschaft abbrechen will. Zwischen ihr und dem Abort steht die Illegalität. Gesetzlich erlaubt wurden Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche in Frankreich erst 1975, in Deutschland sind sie nur straffrei – außer, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als 22 Wochen verstrichen sind und ein obligatorisches Beratungsgespräch durchgeführt wurde. Annie wird durch ihre Entscheidung, sich gegen das Gesetz zu stellen, zwangsläufig von ihrem Umfeld isoliert. Unterstützung findet sie weder bei ihrer Familie noch bei Freund*innen, denen sie sich aus Scham und Verzweiflung heraus nicht anvertrauen kann. Beim Versuch, die Schwangerschaft illegal durch eine sogenannte ,,Engelmacherin’’  zu beenden, erleidet Annie lebensgefährliche Verletzungen.

Petersilie bis zum Erbrechen

Die autobiografische Retrospektive Annie Ernauxs in „Das Ereignis” ermöglicht ein Nachempfinden dessen, was die junge Studentin durchgemacht hat. Ihre Gefühle, ihre Wut und ihre Einsamkeit treten aus den Wörtern hervor. Der Text hat seit der Veröffentlichung im Jahr 2000 nichts an seiner Wirkungsmacht eingebüßt hat. Laura Linnenbaum, die nun nach Annalisa Engheben den Text auf die Bühne gebracht hat, setzt auf diese durchdringenden Momente auch in ihrer Inszenierung. So gibt es nicht nur Momente des Strahlens, des Tanzens und der Unbeschwertheit, sondern vor allem groteske körperliche Ausschreitungen in die Annie sich begibt.  

Die Untersuchung durch einen Arzt in Paris, durchgeführt auf der Bühne auf einem rostigen Tisch hinter durchsichtigen Mullbinden, stellt dem Publikum eine Protagonistin vor, die dem Gesetz einerseits und den Ärzten, die es ausüben, andererseits schlichtweg ausgeliefert ist. In den Versuchen, die Schwangerschaft eigenständig zu beenden, emanzipiert sie sich von den repressiven Umständen, die sie umgeben. Zu sehen ist Nina Bruns, die Annie verkörpert, auf Knien vor einem aufgestellten Spiegel, Petersilie essend bis zum Erbrechen. Gemeinsam mit ihr stellen Pauline Knof und Kathrin Wehlisch unterschiedliche Facetten von Annie dar, die sie behutsam abstreifen, wie Unterhosen, ohne sie zu entblößen.

Bis ins Mark getroffen

Wir erleben mit ,,Das Ereignis’’ am Berliner Ensemble weit mehr als ein aufwühlendes Stück. Wir werden berührt, werden bis ins Mark getroffen von der Ungerechtigkeit und den Leiden, die Annie erlebt. Es gibt an diesem Abend Szenen, die nicht leicht auszuhalten sind, wir wollen uns wegdrehen, uns manchem entziehen und wissen doch: Noch leben wir in einer Welt, in der Millionen Menschen sich so fühlen wie Annie. Wir wissen auch: Solange Frauen gezwungen sind, unter lebensgefährlichen Gegebenheiten abzutreiben, dürfen wir nicht ruhen. Und doch sind wir Zweifler*innen. Wir fragen uns: Wie würdest Du dich verhalten? Was würde Dir durch den Kopf gehen? Wie fühlst Du? In diesen Fragen, die das Stück so nachdrücklich an uns stellt, lebt der vorher unbekannte auffordernde Charakter des Abends. 

Alle Anwesenden merken, dass hier ein eindrückliches Theater gespielt wird, das über vieles Gekannte hinausgeht und den Finger ingesellschaftliche Wunden legt, die mancher Zuschauerin bewusst und vielen Zuschauern unbewusst sind. Kulturkolumne und Drama Baby sind sich einig: Hingehen!


Foto: © JR Berliner Ensemble, v.l. Nina Bruns, Kathrin Wehlisch, Pauline Knof