Zum Ende der gegenwärtig laufenden Spielzeit legt die Staatsoper Unter den Linden ihre Holländer-Inszenierung aus dem Jahr 2013 wieder auf. Zehn Jahre nach der Uraufführung befriedigt diese Inszenierung die heimlichsten Wünsche des Berliner Opernpublikums auf bisher ungekannte Weise.

Operninszenierungen sind eine heikle Angelegenheit. Wagner-Inszenierungen sowieso. Und gerade mit dem Stoff des ,,Holländers’’ kann man vieles falsch machen. Denn: Das kritische Publikum kennt sich meistens sehr gut aus, die Libretti sind lang, die Musik brachial und überhaupt kann es eine Herausforderung sein aus den mitunter mittelalterlich anmutenden Themenfeldern die zeitgenössisch relevanten Fragestellungen herauszudestillieren. Daran ist schon so manche Regisseur*in gescheitert. Wenn dann eine über zehn Jahre alte Inszenierung neu aufgelegt wird, droht zudem die Erkenntnis, dass der Blickwinkel der Inszenierung schlichtweg schlecht gealtert ist (wie etwa bei Sasha Waltz‘ ,,Tannhäuser‘‘ an der Staatsoper Unter den Linden). Kurzum: Ärger ist vorprogrammiert. Das Publikum sitzt gespannt auf der Stuhlkante, die Hände zum buhenden Pfiff bereit.

Es geht doch!

Keinen Ärger, sondern großen Zuspruch hat nun die Inszenierung des ,,Fliegenden Holländers‘‘ von Philipp Stölzl an der Staatsoper Unter den Linden erfahren. Stölzl, der erfahrener Wagner-Regisseur ist und den Holländer schon in Basel (2009) inszeniert hat, tut in Berlin etwas, was fast ungehörig erscheint. Anstatt den Holländer-Stoff voller Inszenierungswut in den Sumpf allzu moderner Regiekonzeptionen zu versenken, besinnt er sich auf die vielen großartigen Bilder, die die Oper bereit hält und geht angenehm behutsam mit dem Holländer-Stoff um. So findet sich der oder die Zuschauende in einer kulturbürgerlichen Hausbibliothek wieder, in der die Senta (Vida Miknevičiūtė) in einem dicken Buch lesend von der Begegnung mit der Sagengestalt des fliegenden Holländers (Gerald Finley) träumt. Hinter Senta hängt als selbstverständlicher Teil der Bibliothekseinrichtung ein riesiges Ölgemälde, das beiseitegezogen wird und als Kulisse für die Begegnung von Daland (Jan Martiník) und dem Holländer dient. Immer wieder wird so die Dimension des Traumes deutlich und es entsteht eine spannungsvolle Atmosphäre, wenn der Holländer und seine Mannschaft im dritten Akt aus ihrem Rahmen in die Bibliothek treten und Traum und Wirklichkeit eine melancholisch-bedrohliche Partnerschaft eingehen. Diese Stimmung dringt auch durch, wenn das Schiff des Holländers mit seinem muschelbefallenen Bug durch den Rahmen in die Bibliothek hineinragt oder wenn der Steuermannschor mit der Mannschaft des Daland um die Wette singt. Alle anderen ,,weltlichen‘‘ Figuren sind wilhelminisch-bürgerlich gekleidet, kommen mit Hut und Gehrock daher, die Spinnerinnen sind gekleidet wie Dienstmädchen mit Spitzenschürze und Haube. Man merkt: Stölzl hat sich entschieden, den Holländer in die Biedermeier-Zeit zu versetzen und zieht diese Entscheidung beachtlich kohärent durch. Dabei – und das ist bewundernswert – wirkt Stölzls‘ Inszenierung nicht kleinstädtisch oder verkitscht, nur, weil der Holländer kein postmoderner Geschäftsmann mit Rollkoffer (wie etwa bei Jan Philipp Gloger in Bayreuth 2013) ist. Die Inszenierung ist gut, weil man sie versteht und weil sie das Publikum trotzdem nicht für dumm verkauft.

Eben weil das Publikum sich nicht damit abmühen muss, die Inszenierung und ihre Formensprache erst zu durchdringen, entsteht Raum, grundsätzlich über das Stück nachzudenken und so zu neuen Erkenntnissen oder Überlegungen zu kommen. Ist der Holländer überhaupt eine wirkliche Gestalt? Trifft Senta womöglich analog zu E.T.A. Hoffmanns‘ ,,Sandmann‘‘ in der Gestalt des Holländers nur auf ein tief sitzendes Kindheitstrauma? Und was für ein Trauma könnte das sein? Das Berliner Publikum honoriert das Werk Stölzls‘ – auch zehn Jahre nach der Uraufführung. Es ist aber auch höchste Zeit, schließlich war das Wagner-begeisterte Hauptstadtpublikum zuletzt mit eher unglücklichen Wagner-Inszenierungen konfrontiert (man denke nur an die unsägliche Kofferparade des Herheim-Rings 2021).

Bild: Jakob Tillmann

Klangliche Filetstücke

Blickt man auf die musikalische Seite des Abends, erlebt man in Maestro Matthias Pintscher einen mutigen Dirigent, der um die Wirkmacht des Wagner’schen Klanges weiß und schon mit der Ouvertüre klar macht, worum es ihm an diesem Abend geht. Er möchte – um jeden Preis – den satten Staatskapellenklang auskosten. Die Staatskapelle folgt Pintscher dabei artig und marschiert mit der Ouvertüre klangvoll vor, ganz ohne im Verlauf an den gefühlvolleren Stellen, etwa bei Sentas großer Ballade, zu übersteuern. Der ganz eigene düster-impulsive Klang der Oper wird getroffen und es ist eine Freude zu hören, wie die Streicher aufbrausen und mit gekonnter Detailschärfe das Bild von der zerklüfteten Küste Norwegens zeichnen. Vor einem bauen sich Bilder auf, die erfühlt werden können, die aufwühlen. Auch die Sängerinnen und Sänger des Abends leisten allesamt Glanzpartien, wobei besonders  Gerald Finley als Holländer brilliert. Wie es um die musikalischen Leistungen eines Orchesters im Rahmen einer Holländer-Inszenierung bestellt ist, lässt sich am besten am ,,Matrosenchor‘‘ ablesen, der zu Beginn des Dritten Bildes als klangliches Filetstück den Höhepunkt der Oper markiert. Ein bester Wein- und Feierlaune donnert die Mannschaft Dalands ihr ,,Steuermann, lass‘ die Wacht‘‘ und erst das Erwachen der Mannschaft des fliegenden Holländers und ihr eigener Chorus saugt die saftigen Klänge des Matrosenchores gleichsam auf. Immer wieder waren bei vergangenen Inszenierungen die Chöre bei dieser Passage zu zurückhaltend, zu sparsam und schlichtweg zu matt. Pintscher aber – gut für vieles – wirft sich mit seinem Orchester so ins Zeug, dass man für einige Takte aufjubeln will: der volle Klang, der Chor – alles stimmt. Dann aber ist das Orchester selbst so begeistert von seinem Klang, dass es den Chor verliert und plötzlich schlägt Pintschers Euphorie in Hektik um: Er muss alle einfangen und reduziert dafür die Kraft von Chor und Orchester. Dann aufatmen – Pintscher gelingt es alle wieder auf Spur zu bringen und der Matrosenchor bleibt als glückliches Klangerlebnis in Erinnerung. 

Die Höflichkeit des Kritikers ist die Deutlichkeit, heißt es. In Bezug auf die Arbeit von Stölzl und Pintscher muss man mit aller Deutlichkeit loben. Ihnen ist mit dem Holländer an der Staatsoper Unter den Linden Großes gelungen. 

,,Der fliegende Holländer‘‘ von Richard Wagner in der Inszenierung von Philipp Stölzl ist an der Staatsoper Unter den Linden Berlin noch am 3., 7. Und 11. Juni 2023 zu sehen.


Bilder: Jakob Tillmann