Unsere Kolumnistin Malin wirft einen Blick auf und hinter die Kulissen der Gegenwartsdramatik. Im Gespräch mit Milo Rau erfährt sie, wie wichtig die immersive Wirkung im Theater ist und warum Utopie auch Platz für Satire haben sollte. Folge 4: Sorry für alles.

Ich bin mit Milo Rau, Regisseur und Autor, zum Interview verabredet. Er ist Gründer der Theater- und Filmproduktionsgesellschaft International Institute of Political Murder (IIPM) und seit der Spielzeit 2018/2019 Intendant des NT Gent. Seine Produktionen, wie Die Moskauer Prozesse (2013) oder Kongo Tribunal (2015), werden international gefeiert. Mit Orest in Mossul (2019) hat Milo nicht nur das Verständnis vom Theater der Gegenwart eleviert, sondern auch deutlich gemacht, was die Inszenierung für den Moment bedeutet. Sein Genter Manifest soll den Theaterbetrieb revolutionieren. Hohe Ambitionen oder ein Hauch von Utopie? Wir reden über die Ampelkoalition, Nachhaltigkeit und Immersionseffekte.

Das Ansprechen politischer Missstände oder Fehlverhalten ist längst nicht mehr genug. Mangelhafte Migrationspolitik herrscht vor, der auch unter der aktuellen Regierung, trotz leichter Verschiebungen nach links, nicht die Bedeutung zukommt, die ihr im öffentlichen Diskurs vor den Wahlen immer und immer wieder zugesprochen wird. Stattdessen beruht die politische Agitation auf den nicht-befragten Bestandteilen unserer Gesellschaft, Vorannahmen, derer wir uns allzu leicht bedienen, um die darunter verborgenen Risse nicht wahrzunehmen. Es wäre eine Utopie zu glauben, dass wir diese Annahmen von heute auf morgen verändern können, antwortet Milo mir auf die Frage nach den Möglichkeiten, auf solche Beobachtungen zu reagieren. Stattdessen solle es um eine epistemologische Befragung dessen gehen, was die Annahmen eigentlich vorantreibt und welchen Kontexten sie entspringen. Die Rahmenbedingungen rücken in das Blickfeld des Regisseurs, der den Aspekt der Nachhaltigkeit seiner dramatischen Arbeit hervorhebt.

Wir kommen auf seine Produktion Orest in Mossul zu sprechen. Die auf Aischylos basierende Handlung ist Aneignung eines mythischen Stoffes, der im Hinblick auf die Konflikte der Moderne neu aufgerollt wird. Eine Technik, die einem aus den zahlreichen Mythenadaptionen, gerade hinsichtlich der Orestie, des Ödipus-Mythos oder auch der Nibelungen bekannt vorkommt. Was an dieser Produktion Raus das besondere Moment ausmacht, ist die Dokumentation dessen, was passiert ist. Im Falle von Orest in Mossul war das beispielsweise ein Schiffsunglück während des Produktionszeitraumes. Alles was vor dem Moment der Aufführung passiert, die verschiedenen Stränge, die ineinander laufen, sind nur anhand der Inszenierung sichtbar. Die politische Arbeit geht aber weit darüber hinaus, was die Zuschauer:innen sehen können. Die temporale und lokale Gebundenheit der Ereignisse, mit denen Milo sich auseinandersetzt, machen den Reiz seiner Arbeit aus. Seine Inszenierung in Mossul hätte sich an keinem anderen Ort drehen lassen können. Das Einbinden von Geschichten in Formatzusammenhängen ist seine künstlerische Handschrift und Bestandteil seines Kunstverständnisses. Theater ist für ihn kein Akt der Genialität. Er vertritt eine technische Perspektive auf das Schaffen von Kunst, auf die Kunstschaffenden selbst.

Was ihm wichtig ist? – Selbstermächtigung und Immersion. Einen Eindruck zu hinterlassen, der über einen netten Theaterbesuch hinausgeht. Eine anspruchsvolle Haltung, die Rau und seinen Studierenden alles abverlangt und sich als konkrete Utopie begreifen lässt. Eine Utopie, die auch Platz lässt für gelegentlich satirische Kommentare lässt. Sorry für alles, schreibt Milo in Grundsätzlich unvorbereitet und wirft dabei eine verlockende Spur von Ironie auf. Man darf gespannt sein auf die nächsten Projekte.


Foto: Jeremy Bezanger