Unsere Kolumnistin Malin besucht die Mülheimer Theatertage und stellt fest, dass alle über die Jelinek reden, aber sie nirgends zu finden ist. Die Schriftstellerin legt halt einen glänzenden Auftritt mit Worten hin, für die physische Anwesenheit sorgen andere. Vorhang auf für Folge 9: Jelinek.

Elfriede Jelinek gilt als Mythos der Theaterlandschaft. Ihre Abwesenheit und gleichzeitige Präsenz im Diskurs der Festivals, Lesungen, Social Media und jeglichen erdenklichen weiteren Formen regt zu den wildesten Spekulationen an. In den wenigen Interviews Jelineks, die seit den 1970er Jahren die Gegenwartsdramatik mitgestaltet, wird deutlich, wie ungern sie als Autorin im Vordergrund steht und stattdessen vielmehr ihre Texte sprechen lassen will. Unbeantwortet bleiben die wiederholten Einladungen ihrer Werke zu den Theaterfestivals Deutschlands und Österreichs, bei denen Jelinek hoch im Kurs steht. Einerseits wird dabei noch zaghaft gescherzt, dass so viel Erfolg nun doch wirklich unfair sei und die Konkurrenzlosigkeit der sprachlichen Gewebe Unsicherheiten in der Dramatik auszulösen vermögen könne.

Gleichermaßen lässt sich auf der anderen Seite feststellen, dass die nicht nur in Aktualität, sondern auch in einem konsequenten Stil die Gegenwart von Jelinek nicht nur provoziert, sondern auch angegriffen wird. Eine Tendenz, die sich lohnt zu verfolgen und anzuerkennen, wie es in diesem Jahr das Auswahlgremium in Mülheim an der Ruhr mit der Nominierung der Hamburger Produktion von „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ vormachte. Mehr als 20 Mal ist Jelinek so jetzt in Mülheim als beste Dramatikerin vorgeschlagen worden. Während die Autor*innen der Stücke 2022 (fast) alle dem Ruf folgen, sich die Inszenierungen ihrer Text anschauen und anschließend für ihre sprachlichen und formalen Leistungen geehrt werden, sucht man Elfriede Jelinek vergebens. Zu sehen sind nur die Umsetzungen ihrer Stücke, wie sie in Wien, Hamburg und, viel zu selten, Berlin auf den Bühnen gespielt werden.

Sprachliche Labyrinthe

Was bleibt, ist eine Inszenierung, die in der hiesigen Stadthalle der Wirkung seines Hamburgischen Vorbilds nur allmählich nachkommt. Hier müssen Abstriche gemacht werden – um den Ton des Stückes bereits vorwegzunehmen. Die Konversationen im Foyer sind am Abend der Vorführung von „Lärm“ in Mülheim beschwingt. Die erregte Stimmung, die sich zunächst auf das zögerliche Ende der Corona-Regeln und die Euphorie über den wahrhaftig oft als warm bezeugten Frühling beziehen könnte, wird nach einigen Gesprächen ganz konkret auf Jelineks Textflächen zurückgeführt, eifrig besprochen und in der Konklusion eines andauernden Unverständnisses ihrer sprachlichen Labyrinthe wohlwollend gelobt.

Hier wird mit liebevollem Glitzern in den Augen über das Rätsel Jelinek und die sanften oder groben Versuche gesprochen, sie zu entschlüsseln. Überforderung und Anforderung gehen dabei Hand in Hand. Dass hier nicht alles zu verstehen sei, kann als Prämisse gelten. Und trotzdem wird zuversichtlich nickend und mit dem Programmheft wippend die Hoffnung der Besucher*innen nicht müde, dass es nach den folgenden drei Stunden eine neue Perspektive auf die Gegenwart – oder immerhin eine Menge Gesprächsstoff.

Das Versprechen eines Abends, der sich seiner Nominierung für den Mülheimer Dramatikpreis würdig erweist, wird eingelöst durch das Hamburger Ensemble, das etwa mit Eva Mattes, Ernst Stötzner und Julia Wieninger dem Jelinek-Text eine schauspielerische Gewalt auferlegt. Beim Blick hinter die Bühne, zwischen den aufgereihten Schweinekadavern und Skimützen wird die Komplexität dieses Unterfangens klar: Das Stück verdichtet sich um den Ausbruch von Covid-19, Tönnies-Skandal und politischen Erwartungen einer fiktiven Gruppe an Menschen, gefangen im Urlaubsidyll von Ischgl.

Kein Monolog zu entfremdet

Während die meisten Stücke, die dieses Jahr etwa in Mülheim zu sehen sind, eher mit ihrer Technik prahlen oder sich in minimalistischer Requisite üben, wird für „Lärm“ die Fundgrube ein Mal vollständig leergeräumt. Ein Sammelsurium der unterschiedlichsten Objekte, aufblasbar aus Plastik oder blut blinkend, wird im Verlauf der dreistündigen Vorstellung auf die Bühne geschleppt und auch ordentlich wieder aufgeräumt. Gläser zerbrechen, Schlamm spritzt und schließlich laufen Schwein und Musiker in Lederhosen über die Bühne. Was zunächst nach surrealistischem Albtraum klingt, wird paradoxerweise bei Jelinek zu einem Faszinosum eingelöst, bei dem mehr immer noch mehr ist und kein Monolog zu entfremdet erscheint. Denn die sprachliche Qualität des Stücks, wie auch vieler weiterer Texte, die in Gänze weder zu spielen noch aufzuzählen sind, bleibt ungebrochen, wenngleich ihnen wohl bereits im Vorfeld mit Wohlwollen begegnet wird. Zu bemängeln wäre dann nur, dass sich diese Texte eben nicht mehr neu erfinden, sondern einen Finger (oder drei) in die sich immer neu entfachenden Wunden unserer Gesellschaft legen, nachbohren, wo es weh tut und den Wahnsinn von Verschwörungstheorien und Medienrummel derartig überspitzen, dass selbst ein als Alien verkleideter Virologe dem gefüllten Saal der Stadthalle ein zurückhaltendes Schmunzeln entlockt.

Elfriede Jelinek macht mit ihren Stücken richtig Lärm, wie auch Julia Wieninger, die den Abschlussmonolog des Abends hält und deren Schrei des „Neins“ den Vorhang schließlich senkt. „Wir müssen noch verarbeiten, was wir gelesen haben, wir müssen noch Wurst draus machen, bevor es uns verdirbt“, schreibt Jelinek in „Lärm“ und markiert damit eine Perspektive, die zwar nicht revolutionär, aber aktueller denn je geworden ist.


Foto: Jeremy Bezanger