Malin hat sich 4.48 Psychose von der Dramatikerin Sarah Kane angeschaut. Die Inszenierung von Ulrich Rasche am Deutschen Theater spricht das Unaussprechbare aus, denn psychische Erkrankungen sind auf den Theaterbühnen noch immer eine Seltenheit. Zeit, dass sich das ändert, findet unsere Kolumnistin. Folge 6: Zusammenbruch

Wie geht man mit einem Stück um, dessen letzte Konsequenz der Tod sein muss? Wenn die Waagschale des Nicht-Lebens und gleichzeitig Nicht-Sterben-Wollens so unaushaltbar wird, dass das Ich dissoziiert und alles zugrunde geht? Mit seiner Inszenierung von 4.48 Psychose von Sarah Kane am Deutschen Theater in Berlin versucht Ulrich Rasche eine Antwort auf diese Frage zu finden. Kane war eine britische Dramatikern, die sich mit 28 Jahren nach langjähriger psychischer Erkrankung das Leben nahm. Sie verfasste zwischen 1995 und 1999 insgesamt fünf Theaterstücke, von denen 4.48 Psychose das letzte ist und am transparentesten mit Selbstverletzung und Suizid umgeht.

Das Stück erfordert im Umgang mit seinen Textpassagen viel Einfühlungsvermögen  und Gespür aller Beteiligten für das, was Kane den Zeilen einschrieb. Figureneinteilungen, ganz in postdramatischer Tradition, gibt es dabei nicht. Alle Figuren können von allen gespielt werden. Der Chor tritt an die buchstäbliche Leerstelle des Individuums. Für die Inszenierung am DT heißt das konkret: Kunstnebel, diametral angeordnete Laufbänder auf einer rotierenden Bühne, an dessen Seite sich eine Live Band befindet, während die Schauspielenden in hautfarbenen Anzügen aus dem Dunst auf- und abtauchen. In der dreistündigen Vorstellung kommt es zu keinem Ruhemoment. Die Band spielt unermüdlich, während die Schauspieler*innen von links und rechts die Bühne betreten – langsam schreitend oder brutal gestikulierend während ihnen die Spucke aus den Mündern tropft und die Mimik vor emotionalem Überschwang zu entgleisen droht.

Der Text ist explizit. Zu explizit? Der Text wird hinaus gebrüllt, jedes Wort muss betont werden. Die Zuschauerreihen wackeln, einige schütteln abweisend mit den Köpfen und verschränken die Arme bei den ersten Fäkalausdrücken, die laut durch das Theater hallen. Man hört verschiedene Stimmen und nimmt unterschiedliche Perspektiven wahr, die um Selbstverletzung, Selbstzweifel und den Plan eines Suizids um 4:48 Uhr kreisen. Die schon im Text verankerten Schleifen aus Einsamkeit, Trauer, Wut und Erschöpfung spiegeln sich auf der Bühne in den herausragenden schauspielerischen Leistungen körperlichen Einsatzes. Fragen die Figuren nach dem Durchhalten, der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung zwischen endlosem Pillen schlucken, Therapiesitzungen und Gesprächen im Freundeskreis, dann wird es trotz der Lautstärke ganz still im Publikum.

Aussprechen unaussprechlicher Gedanken

Was die Mystifizierung durch Nebelschwaden betrifft, so erscheint dies nicht ganz stimmig mit dem Anspruch des Abends auf vollkommene Offenheit und Aufklärung. Spricht eine Figur über ihre zerschnittenen Arme oder die konkreten Pläne zum Suizid, dann lässt sie dabei keine Mystik oder romantisierte Phantasien zu, sondern demonstriert schonungslos das Aussprechen unaussprechlicher Gedanken. Im Stimmengeflecht lassen sich schemenhaft Textpassagen heraushören, die sich Ärzt*innen oder Therapeut*innen zuordnen lassen, auch wenn Kane diese nicht als solche im Text labelt. Es sind Stimmen, die fürsorglich sind, die bedrohlich wirken und Unverständnis gegenüber geäußterten Symptomen und Selbstzweifeln ausdrücken. Dramatischer Höhepunkt ist die medikamentöse Einstellung der Figuren. Antidepressiva und Schmerzmittel werden aufgezählt und der Rausch verdichtet. Die Aussichtslosigkeit auf Schmerzlinderung endet im orgasmischen Zerfall.

Diese erfolgt durch das wahllose Verschreiben hochdosierter Medikamente, die den Zerfall des eigenen Geistes zur Folge haben und in ihrer Kombination lebensunwürdige Nebenwirkungen hervorrufen. Der Chor auf der Bühne überschlägt sich beinahe im Rezitieren der Medikamente, bis sie vor Erschöpfung wieder zusammenbrechen, im Nebel verschwinden und die nächste Szene anbrechen lassen muss. Sarah Kane zeichnet mit ihren Texten nach, wie es sich anfühlt zu leiden, ohne auf eine Form der Milderung der Schmerzen bauen zu können. Auch andere Stücke der britischen Dramatikerin machen dies deutlich, denkt man an Phaidras Liebe und Gesäubert. In ihrer Eindringlichkeit stellt Kane damit einen Sonderfall der Gegenwartsdramatik dar, der aber umso deutlicher macht, wie relevant das Thema Mental Health auf der Theaterbühne sein sollte. Am DT ist man sich der Verantwortung des sensiblen Themas bewusst: Auf der Website wird auf die Hotline des Berliner Krisendienstes verwiesen, an die sich psychisch Erkrankte wenden können, um kurz- und langfristig Hilfe zu bekommen.

Psychische Erkrankungen sollten auch auf der Bühne kein Tabu sein

Ein anderes Beispiel ist die Inszenierung von Die Normalen // Ist kein Balsam in Gilead am Bielefelder Theater, die am 4. September 2021 prämierte. Das Stück von Anna Jelena Schulte verhandelt weniger im postdramatischen als im dokumentarischen Sinne das Verhältnis von Normalität und Krankheit. Auch sie setzt sich mit dem Thema der Psychose auseinander, versucht auf Basis von Gesprächen mit Psychiater*innen das Feld zu ergründen, auf dem sich Vorurteile dessen, was wir als krank empfinden und was Krankheit umfassen kann, angesiedelt haben. Expliziter als bei Kane werden Strukturen in den Blick genommen, die krank machen können, Realitäten verschieben und Schutzräume zerstören können. Der Inszenierung folgt ein Nachgespräch. Dem Regisseur Peter Kastenmüller gelingt eine behutsame Annäherung an den Komplex der Verknüpfungen von Psychiatrie und Gesellschaft.

Im gesellschaftlichen Diskurs und besonders im literaturwissenschaftlichen Betrieb erfolgte in den letzten Jahren eine sukzessive Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen, die gerade durch Aufklärung und Transparenz vorangetrieben wird. Für die Dramatik war das bisher nicht zu erkennen, auch wenn der Topos des Kranken oder Krankhaften die Stoffgeschichte schon immer durchzogen hat. Ich denke an zum Beispiel an Molierés Der eingebildete Kranke (zur Zeit am Theater Bielefeld zu sehen) oder an Stefan Zweigs Novelle Amok (zur Zeit am Berliner Ensemble zu sehen) – zwei der Beispiele wie einerseits mit der Erkrankung an Depressionen als auch mit dem gesellschaftlichen System literarisch umgegangen werden kann.

Aber explizit, wie bei Kane, wird dabei keines der Stücke, was hinsichtlich ihres Potenzials gerade um eine Sensibilisierung zur Überarbeitung der Spielpläne aufrufen sollte. Der Zusammenbruch kann nicht länger als Tabu verhandelt, sondern muss als Teil der Realität, wie sie auf der Theaterbühne ihren Ausdruck findet, integriert werden. Irritation und das Unbehagen müssen als notwendige Effekte der Inszenierung gelten, die zum Umdenken auch über die Vorstellungsdauer bewegen.


Foto: Jeremy Bezanger