Mode lebt von ständigem Wandel und Aneignungsprozessen. Deshalb drücken sich in ihr gesellschaftliche Zustände und somit auch Unterdrückungsverhältnisse aus. Wie gestaltet sich ein zeitgemäßer, kritischer Umgang mit Mode? Darüber spricht die UnAuf mit Antonella Giannone, Professorin für Modetheorie, -geschichte und Bekleidungssoziologie an der Kunsthochschule Weißensee. 

UnAuf: Mode wird im öffentlichen Diskurs gerne nur auf Ästhetik reduziert, dabei umfasst sie vielmehr. Wie kamen Sie dazu, sich mit Mode so intensiv zu beschäftigen?

Antonella Giannone: Mein Interesse, an Mode zu forschen, hat vor langer Zeit angefangen. Ganz am Anfang dachte ich, mit den Schriften Walter Benjamins anhand von Mode verstehen zu können, was die Moderne ist und was das urbane Leben in modernen Städten auch für materielle Aspekte haben kann. Ausgehend davon faszinierte mich die Frage, wie Mode in der Lage ist, unterschiedlichste Aspekte der Gesellschaft zu verbinden. Diese Auseinandersetzung ist auch herausfordernd, weil es immer diesen angesprochenen ästhetischen Genuss von Mode gibt, der von den unterschiedlichen Phänomenen ablenken kann.

Hält diese Faszination noch an?

Auf jeden Fall. Das sind die Fragen, die mich heute immer noch beschäftigen. Als Professorin an der Kunsthochschule Weißensee erhalte ich zusätzlich Einblicke in die Modeproduktion selbst. Als Theoretikerin hatte ich Mode bisher nur von der fertigen Seite gesehen. Die Arbeit mit Studierenden, die Mode, Textil oder andere Produkte machen, zeigt auch die dahinterstehenden Gedanken und Prozesse auf. Die Zeiten hinter den Projekten an einer Kunsthochschule sind anders als die Zeiten der Industrie. Das ermöglicht hier ein intensives Nachdenken, welches im realen Zusammenhang oft nicht möglich ist.

Sie kamen schon auf die Industrie zu sprechen. Wie hat sich der Bezug zu Mode in Zeiten des Kapitalismus verändert?

Die Verbindung zwischen Mode und Kapitalismus ist grundlegend. Mode in der westlichen Moderne ist von kapitalistischen Produktionsbedingungen maßgeblich geprägt worden. Die dominante Idee von Trends und Mode als zyklischer Wandel gehört zu einer bestimmten ökonomischen Organisation. Dennoch vertrete ich mit anderen Theoretiker*innen die Meinung, dass Mode kein ausschließlich westliches Phänomen ist. Die Notwendigkeit des Wandels ist in unterschiedlichen Kulturen grundsätzlich zu finden, wurde aber immer anders artikuliert und organisiert.

Was heißt das für die Vorstellung von Mode als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit oder Identität?

Mode ist ursprünglich ein Klassenphänomen gewesen. In der klassischen Modetheorie wurde die Annahme vertreten, dass Mode immer von den oberen Klassen diktiert wird. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war die Darstellung von Identität demnach eine Klassenidentität. Die Industrialisierung hat dazu beigetragen, dass bestimmte Elemente schnell mit billigeren Materialien nachgemacht und dadurch zugänglicher wurden. Mode dient heute immer mehr dazu, individuelle und singuläre Identitäten zum Ausdruck zu bringen. Auch wenn es dann paradoxerweise zu sehr konformen Ergebnissen kommt. Natürlich gibt es noch Nischen oder Subkulturen, in denen durch Kleidung eine Gruppenidentität artikuliert wird. Aber allgemein stellt Mode immer mehr eine individuelle Identität dar. Oft wird daher auch von einer Demokratisierung von Mode gesprochen.

Demokratisierung auf wessen Kosten?

Die Idee von Demokratisierung muss immer aus einer bestimmten Perspektive gesehen werden, weil sie sehr ambivalent ist. Natürlich konnten mehr Menschen Zugang zu Mode finden und darin einen Ausdrucksmodus entdecken. Die Kosten der Demokratisierung bedeuten aber meist schlechte Arbeitsbedingungen für Menschen, die eigentlich von dem ganzen Glamour der Produkte wenig mitbekommen. Für deren Arbeit gelten keine europäischen Standards.

Stichwort Delokalisierung des Produktionsprozesses.

Genau. Gleichzeitig finde ich es aber auch wichtig zu betonen, dass viele Menschen ausgehend von ihrer sozialen Situation auf niedrige Preise angewiesen sind. Ich denke da vor allem an Familien mit Kindern. Fair und ökologisch nachhaltig produzierte Ware muss man sich erstmal leisten können. Das ist eine soziale und politische Frage, die Mode genauso beeinflusst. Aber selbst die Vorstellung eines Modetraums in Europa ist vereinfacht. Die Modeindustrie leistet sich oft auch hier unethische Arbeitsbedingungen. Nicht nur auf der Ebene der Arbeiter*innen in den Fabriken, sondern auch unter Modedesigner*innen. Die Kulturanthropologin Giulia Mensitieri stellt in ihrem Buch „Das schönste Gewerbe der Welt“ sehr eindrücklich dar, wie dieser Modetraum mit sehr vielen Widersprüchen zwischen Ruhm und Prekarität einhergeht.

Dieser Widerspruch spiegelt sich auch in Phänomenen wie „Kulturelle Aneignung“ wider. Elemente einer oft marginalisierten Gruppe werden aus ihren Kontexten herausgerissen. Die Diskriminierungen halten an, doch diese Elemente genießen für eine bestimmte Zeit eine unhinterfragte gesellschaftliche Aufwertung durch die dominierende Gruppe. Wie begreifen Sie Aneignungen als Teil von Mode?

Insbesondere im Bereich der Kleidung hat Aneignung schon immer stattgefunden. Natürlich waren die Bedingungen und Kontexte der Aneignung unterschiedlich. Internationalen Handel, durch den Textilien aus allen möglichen Teilen des Orients und der Welt nach Europa gekommen sind, gab es schon vor Beginn des Kapitalismus. Diese Textilien hatten unbekannte Muster mit bestimmten Tieren, Früchten oder Blumen, die man versuchte zu imitieren. Dabei haben die Menschen in Europa oft gar nicht gewusst, was sie genau nachmachen. Das ist ein essenzieller Teil der Kostüm-, Kleidungs- und Textilgeschichte. Über Textilien sind Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Welt in Berührung gekommen. Das war vielfach eine andere Form des Kennenlernens, wenig Kenntnis und Wissen, oft Unwissen.

Wie wurden daraus unausgeglichene Machtbeziehungen?

Dieses Kapitel der Aneignung hat mit der Kolonialisierung zu tun. Es entstanden andere Kontexte, in denen es darum ging, Rohstoffe, Textilien und Arbeit auszubeuten. Da ging es nicht nur um Kultur. Gesamte Länder wurden systematisch angeeignet und unter eigenen Bedingungen machtsüchtig weitergeführt. Diese Kontinuitäten halten bis heute noch an. Deswegen hat diese Form von Aneignung einen ganz anderen Charakter als beispielsweise die Handelswege der Antike.

Wie manifestiert sich das konkret in der Mode?

Es lässt sich auf der Ebene der Kleidung sehr gut sehen, wo Machtverhältnisse unausgeglichen sind. Bestimmte Elemente der Kleidung einer Gruppe werden total abgelehnt und degradiert, andere Elemente werden einfach übernommen oder als Inspiration benutzt. Im Kontext des Kolonialismus wurden sie so verändert, um daraus westliche Mode zu machen. Heutzutage erleben wir eine Phase der Reflexion über diese brutale Art der Aneignung. Das hat auch mit der Dekolonialisierung von Wissen zu tun. Es ist nicht mehr die Zeit, in der man nicht darüber Bescheid weiß. Stattdessen ist bekannt, dass gewisse Elemente innerhalb bestimmter, nicht-europäischer Kontexte ihre Bedeutung gewonnen haben.

Was für einen konkreten Einfluss hat diese Phase der Reflexion auf die Modeindustrie?

Giannone: Heutzutage gilt es auch für Modedesigner*innen und andere Kreativschaffende zu hinterfragen, was eigentlich hinter bestimmten Aspekten steht und inwieweit eine Aneignung akzeptabel ist. Der Begriff „Kulturelle Aneignung“  ist so stark in der Debatte, weil wir alle mit dem Problem konfrontiert sind, dass unhinterfragte Dinge systemische Unterdrückung verkörpern. Die Situation, in der wir heute leben, zwingt uns endlich einmal, wirklich reflektierter zu agieren. Auch auf der Ebene der Kleidung und der Mode.

Was für Herausforderungen entstehen dabei?

Wenn man sich die Geschichte der Mode anschaut, wurde diese immer von Vermischungen geprägt. Ich plädiere daher nicht für eine Suche nach Authentizität, weil ich nicht denke, dass eine solche existiert. Die Zeichen, die Menschen benutzen, sind immer im Wandel und verändern sich. Trotzdem ist in einigen Fällen mit einer besonderen Sorgfalt umzugehen. Bestimmte ausbeuterische Aneignungen sind so dermaßen internalisiert, dass man überhaupt nicht versteht, wie Probleme entstehen können. Eine Vorstellung, nach der es sich dabei „nur“ um Mode handle, ist heute nicht mehr vertretbar.

Wie sähe für Sie denn eine gute kritische Reflexion auf der Seite der Konsument*innen aus?

Das fängt schon damit an, dass man sich bewusst darüber ist, wie diese Kleidung produziert wurde. Anstelle der Werbung sollte man sich von der Materialität der Produkte leiten lassen. Konsumierende können beispielsweise auf das Etikett sehen und beginnen, sich ein bisschen mehr Fragen zu stellen. Gerade wenn man von bestimmten Zeichen einer anderen Kultur fasziniert ist, ist es umso wichtiger, sich zu informieren, woher die Bilder und Elemente kommen. Ich rate, nicht nur auf der Oberfläche zu bleiben, sondern sich auch zu fragen, was das mit Blick auf Körper bedeuten kann.

Aneignung findet auf sehr vielen Ebenen statt. Ich denke auch an Phänomene, in denen sich obere Klassen Elemente von unteren Klassen aneigneten, wie zum Beispiel Trainingsanzüge oder Ripped Jeans. Sehen Sie da Parallelen – auch im Hinblick auf die von Ihnen formulierte kritische Haltung?

Das ist eine Frage, die ich nicht ohne Zweifel beantworten kann. Der Mode muss trotz ihrer zynischen Aneignungsprozesse auch die Macht der Entstigmatisierung beigemessen werden. Sie hat etwa ästhetische Akzeptanz für bestimmte Zeichen fabriziert, die in realen Situationen nicht offen mit Stolz getragen, sondern eher mit Scham verbunden wurden.

Wie kam es dann dazu, dass diese Scham überwunden wurde?

In bestimmten subkulturellen Kontexten wurden gerade diese Zeichen übernommen und umgewertet, um daraus Identitätszeichen zu machen. Ich denke beispielsweise an die Punk-Kultur, aber auch an die Jugend in urbanen Zusammenhängen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben wir immer wieder gesehen, wie Sub- und Protestkulturen direkt von der Mode angeeignet und verkauft wurden.

Und dadurch kam es zur angesprochenen Entstigmatisierung?

Je mehr Bilder von einem Stigma ich sehe, desto dekontextualisierter wird meine Wahrnehmung davon. Andererseits räume ich auch ein, dass es schon etwas Bösartiges oder Zynisches hat, sich Zeichen der sozialen Armut modisch anzueignen. Dennoch gibt es einige Fälle, in denen Dekontextualisierungen zu Entstigmatisierung geführt haben.

Zum Beispiel?

Von muslimischen Frauen getragene Kopftücher galten bis zu einem bestimmten Punkt als total unmodisch. Zusätzlich kamen noch Verschleierungsverbote in gewissen Zusammenhängen dazu. Das Kleidungszeichen war stigmatisierend eindimensional und wurde lediglich mit Religion in Verbindung gebracht. Komponenten der Selbstdarstellung, Identität und Ästhetik wurden vollkommen ignoriert. Mit der Zeit ist dieses Zeichen durch die Akteurinnen selbst, aber auch durch die Mode anders interpretiert worden. So hat beispielsweise die Idee der „Modest Fashion“ dazu beigetragen, das Kopftuch in seiner Vielfältigkeit sehen zu können. Die vermeintlich ausschließlich religiöse Zugehörigkeit wurde erweitert.

Es geht also darum, Kleidung immer in ihrer Vielfältigkeit der Nutzung zu verstehen?

Ja. Ich fand es immer unmöglich, wie über die Kleidung muslimischer Frauen in bestimmten Kontexten gesprochen wurde. Für mich war das ein Punkt, an dem man nicht verstanden hat, was Kleidung heißt. Ich plädiere dafür, Kleidung nie zu einer einzigen Bedeutung zu reduzieren, selbst wenn es die offensichtlichste ist. Auch das gehört zu einem kritischen Umgang mit Mode.


Foto: Alejo Reinoso / unsplash