Einst war der Anzug das bürgerliche Kleidungsstück schlechthin. Sein Verschwinden seit den 70er Jahren zeugt vom Verfall des öffentlichen Raums. Dabei lässt sich im Anzug ein Verständnis von Mode (wieder)entdecken, das ein Gegenmodell zum gegenwärtigen Authentizitäts- und Ich-Kult darstellt.
„Nachmittags im Smoking? Das tun doch sonst nur die Tiere.“ Wer in Thomas Manns frühen Erzählungen bereits zum Five o’clock tea im Smoking, dem kleinen Gesellschaftsanzug des Abends, erscheint oder den Unterschied zwischen Smoking und Jackett nicht kennt, dem wird in ironischem Ton gewinnende Einfalt und Naturnähe attestiert. Bei Thomas Mann, der seine Erzählungen selbst bekanntlich am Schreibtisch im Anzug verfasste, werden dessen verschiedene Spielarten zum Inbegriff des zivilisierten Bürgertums: „Der weltgültige Abendanzug, eine Uniform der Gesittung, faßte äußerlich die Spielarten des Menschlichen zu anständiger Einheit zusammen“, heißt es entsprechend in der Novelle Der Tod in Venedig.
Es gehört zum Mythos des Herrenanzugs, dass er sich in seiner 200-jährigen Geschichte scheinbar kaum, allenfalls in Details verändert habe. Wandel offenbart erst der Blick auf die Geschichte der Produktionsweisen. Die Ursprünge des Anzugs liegen bei den merchants, den englischen Kaufleuten. In England formiert sich nicht etwa im Widerstreit, sondern in der Verbindung von merchants und aristokratischen gentry eine Bourgeoisie, die als neue herrschende Klasse der kapitalistischen Gesellschaft wesentlich für die Verbreitung des Anzugs verantwortlich ist. Die Geschichte des Männeranzugs ist nicht zu trennen von einer Geschichte der Klassengesellschaft und der kapitalistischen Produktion.
Ist der Anzug als Kleidungsstück – so stark verwachsen mit der Geschichte des Bürgertums und der Klassengesellschaft – damit endgültig kompromittiert? Es scheint fast so: Anders als die fiktive Hauptfigur in Thomas Manns Novelle Gustav von Aschenbach kann die große Mehrheit ihren Urlaub nicht – gekleidet in den weltgültigen Abendanzug – im Grand Hotel des Bains am venezianischen Lido verbringen. Nur ein kleiner, privilegierter Kreis des hohen Bürgertums profitiert von den Vorzügen der mondänen Zivilisation. Max Horkheimer, selbst bürgerlicher Sohn eines Kunstwollfabrikanten, bringt schon 1916 in einem Brief die problematische Verbindung zwischen der Klassengesellschaft und dem Anzug, hier als Cutaway, auf den Punkt: „Du schläfst in Betten, trägst Kleider, deren Herstellung wir mit der Tyrannenpeitsche unseres Geldes von Hungernden erzwingen, und Du weißt nicht, wieviele Weiber bei der Herstellung des Stoffes für Deinen ‚Cut‘ neben die Maschine gefallen sind.“ Ein Urteil, das heute allerdings auf Hoodie und Jogginghose ebenso zutrifft.
Schöne neue Kleiderordnung: Hoodie und Jogginghose lösen den Anzug ab
Spätestens seit der 68er-Revolution verschwindet der Anzug immer stärker aus der Öffentlichkeit. Bereits in seiner 1953 publizierten Erzählung Die Betrogene – das letzte Werk, das Thomas Mann vor seinem Tod vollendet hat – wird die Krise der bürgerlichen Kleidungsnormen beschrieben: Der junge Amerikaner Ken Keaton besitzt kein evening dress mehr, denn „ohnehin hatten die gesellschaftlichen Sitten sich seit Jahren gelockert, weder in der Theaterloge noch bei Abendgesellschaften war der Smoking mehr strikte Vorschrift“.
Gibt es bei Thomas Mann noch die Anlässe, zu denen die Mehrheit der Herren den Smoking trägt, so zeichnet sich gegenwärtig ein anderes Bild ab. Wer heute im Anzug das Theater besucht, gehört keineswegs zur Mehrheit. Längst ist der Kapitalismus dem Anzug entwachsen. In zuweilen erstaunlicher Offenheit zeugt die Marketing-Sprache der Unternehmensberatungen von einem neuen ideologischen Status quo, so etwa eine Ausgabe des Porsche Consulting Magazins: „Statt bürokratischem Anzugzwang ist eher der bequemere Hoodie modische Pflicht. Bequem gekleidet denkt es sich gleich auch viel leichter.“ Nicht mehr Anzug zu tragen, sondern beispielsweise Hoodie und Jogginghose, ist keineswegs mehr ein Bruch mit den herrschenden Konventionen. Im ikonischen schwarzen Anzug war es Karl Lagerfeld, der mit seinem Diktum „Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“, diese noch einmal zum modischen Antagonisten erklärte. Doch jede modische Luxusmarke stellt heute mit der größten Selbstverständlichkeit auch Jogginghosen her. Die Jogginghose ist längst nicht mehr Transgression der Kleiderordnung, sondern vielmehr Teil der neuen etablierten Ordnung, eine „Pflicht“, die ebenso repressiv auftreten kann, wie der alte „Zwang“ zum Anzug.
Theodor W. Adorno jedenfalls hätte scharf widersprochen, dass es sich – gekleidet in einen bequemen Hoodie – leichter denken lässt. Gerade er beharrte in seinem öffentlichen Auftreten bei aller Kritik am Bürgertum, das sein Denken prägte, auf der Formalität des Anzugs. Die Korrektheit der Formen (und dazu zählt das Tragen des Anzugs) wird für Adorno Mittel der Distanzwahrung, die Reflexion und Denken überhaupt erst ermöglichen. So deutet es auch Volker Gerhardt, der einst bei Adorno studierte, in einem Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur: „Ich sehe darin den Versuch, eine Ahnung von Distanz gegenüber den Lebensformen deutlich zu machen, die für ihn wichtig war. Indem man einfach durch Überkorrektheit und Zeichen einer gewissen Formalität die Nähe, das Aufgehen in den Verhältnissen zu vermeiden sucht.“
Vielleicht ahnte Adorno, dass es mit dem Verschwinden des Anzugs nicht getan ist. Trotz aller unbezweifelten Errungenschaften der 68er-Revolution erleben wir heute keineswegs die endgültige Befreiung, sondern das Ende des öffentlichen Lebens zugunsten einer „Tyrannei der Intimität“, so der Soziologe Richard Sennett. Eine Diagnose, die vielleicht erst im Auftreten der Influencer*innen ihren höchsten Aktualitätsgrad erreicht: Authentizität, die reine Selbst-Offenbarung und Ausstellung des eigenen Ichs werden zum universellen Bewertungsmaßstab. Das Tragen des Anzugs dagegen hält an der Trennung von öffentlicher und privater Sphäre fest. Gerade ihm kann in seiner grundsätzlich festgelegten Form und seinem geradlinig-klassischen Schnitt eine elegante Unpersönlichkeit eigen sein. Mode als Maske, als „verhüllendes Nivellement“ bei Adorno und Mittel, das persönliche Empfinden und den eigenen Geschmack für sich zu reservieren: Im Anzug verkörpert sich ein Verständnis von Mode, das die Entstehung eines öffentlichen Raums, in dem wir die*den Andere*n nicht mit unserem eigenen Ich belasten, überhaupt erst ermöglicht.
„Ich gehe mich einen Dreck an!“: Gegen die Authentizität, für das Spielerische!
Es existieren durchaus Wege des Raffinements, das Allgemeine mit der Persönlichkeit zu verbinden. Die Tatsache, dass das Anzug tragen immer stärker als Zwang empfunden wird, zeugt jedoch von der gegenwärtigen Unfähigkeit, die Möglichkeiten des Spiels mit der Form zu erkennen. Das Formell-Allgemeine des Anzugs erlaubt immer auch, die Konventionen zum Tanzen zu bringen, sie zu verschieben, sie umzukodieren. Erst mit einer bestehenden Form wie dem Anzug lässt sich auf eine Art und Weise spielen, die progressiver sein kann als die bloße Transgression. Um ein Beispiel zu nennen: Während der Anzug einerseits kulturelle Differenzen verdeckte, verstärkte er zweifelsohne geschlechtliche Codierung. Er ist nicht nur das bürgerliche, sondern das männliche Kleidungsstück schlechthin. Doch es ist wesentlich Marlene Dietrich, die schon in den 1930er Jahren diese männliche Codierung nachhaltig subvertiert und resignifiziert hatte. Ihre Vorliebe für maßgeschneiderte Anzüge zeugt von einem Sinn für Theatralität und das Spiel mit der Form, der Kleidung noch als spielerische Maske und nicht als authentischen Ausdruck des Selbst versteht. Auf die Frage, ob sie die vielen Biographien über sich gelesen habe, antwortete Marlene Dietrich einst: „Ich gehe mich einen Dreck an!“ Gegenüber jeglichem Authentizitätskult beharrte sie in souveräner, geradezu emanzipatorischer Geste auf elegant-mondäner Künstlichkeit. Eine Haltung, die nicht zuletzt den Anzug auch für Frauen salonfähig machte.
Noch einmal zurück zu Thomas Mann: Parallel zu seiner Erzählung Die Betrogene, nimmt er die Arbeit an seinem Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull wieder auf. Als Felix Krull durch Diebstahl zu Geld kommt, ist das erste, was er sich zulegt, selbstverständlich ein Smoking-Anzug, „um darin von Zeit zu Zeit, gleichsam versuchs- und übungsweise ein höheres Leben zu führen“. (Ver-) Kleidung wird zum formal-formellen Spiel mit Rollen, zu einem großen ‚Als-Ob‘ voller faszinierender Mondänität, und die bürgerliche Gesellschaft zu ihrem Spielplatz. Vielleicht sollte man die Haltung Theodor W. Adornos, Marlene Dietrichs und Felix Krulls als Gegenmodelle zu einem gegenwärtigen Ich-Kult begreifen. Vielleicht ist es an der Zeit ein Loblied auf die zivilisierte Distanz, den spielerischen Umgang mit der Form und die theatrale Artifizialität anzustimmen – kurzum: ein Plädoyer für den Anzug.
Foto: Bundo Kim / unsplah