Malin sprach mit der Dramaturgin Maja Zade. Ihre Ödipus-Inszenierung hat unsere Kolumnistin in einem ganz besonderen Punkt neugierig gemacht. Denn aus den unzähligen Verhandlungen des mythologischen Stoffes hebt sich Zades ödipus ab. Folge 5: Keine Götter mehr
Ein Abend an der Schaubühne in Berlin – Lichter funkeln entlang des Ku’damms und der M19 lässt mich vor dem Eingang des Theaters raus. Ich bin gespannt auf das Stück, das mich jetzt erwartet. Ödipus-Inszenierungen gibt es gegegenwärtig mehr, als man besuchen oder nur überblicken könnte. Das Drama, das ursprünglich von Sophokles geschrieben wurde, ist mythologisch derartig dicht aufgeladen von Macht, Inzest und Gewalt, dass die Fülle der Auseinandersetzungen fast zu mühsam erscheinen. Jede Produktion legt andere Schwerpunkte, Mythenaktualisierung ist eben nicht gleich Mythenaktualisierung. Maja Zade hat mit ödipus ein Stück geschrieben, dass nicht so ist, wie die anderen. Auf der Bühne zu sehen sind Caroline Peters, Christian Tschirner, Renato Schuch und Isabelle Redfern, unter der Regie Thomas Ostermeiers. Aber was ist daran neu? – Es gibt keine Götter mehr. Es findet eine zeitliche Verkehrung des Mythos statt, Christina und ihr jüngerer Freund befinden sich im Griechenlandurlaub. Zu dieser Konstellation treten Bruder und beste Freundin, die das Familiendrama in den Gang bringen.
Ich möchte mehr über die Hintergründe der Entstehung des Stückes erfahren und treffe mich mit Maja Zade zum Gespräch. Typisch für die Schaubühne, erzählt sie, ist die Nähe zur Produktion. Enge Probenbetreuungen schärfen das künstlerische Profil des Hauses, aber auch der Zusammenarbeit hinsichtlich der Entstehung von Stücken. So schrieb sie das Theaterstück ödipus als Auftragsarbeit und entwickelte es dann mit Ostermeier hin zu einer Inszenierung, die als psychologisches Kammerspiel anmuten könnte. Auf die Frage nach der Besonderheit dieser Produktion im Vergleich zu anderen, wie abgrund oder reden über sex, antwortet sie, dass sich das Schreiben schon dadurch unterscheiden musste, dass es sich beim Ödipus-Mythos praktisch um mehr stoffliche Grundlage handelte, als bei anderen Stücken. Die Fülle der Inszenierungen sowie Rezeption scheint also auch die Produktionsbedingungen zu beeinflussen. Ganz unbefangen kann man wohl an keinen Text herangehen, aber mit eigenen Vorstellungen. Maja betont, wie wichtig die individuellen Schwerpunkte waren, um die Inszenierung den eigenen Vorstellungen anzupassen und aus der Menge der Bearbeitungen abzusetzen. Das Gleichgewicht männlicher und weiblicher Rollen auf der Bühne und die infolgedessen präsentere Rolle der Mutter des Ödipus, lag ihr besonders am Herzen. Zade und Ostermeier verhandeln in der Produktion allerdings nicht nur eine Verschiebung des Gleichgewichts zugunsten der Geschlechterverhältnisse, sondern setzen den gesamten Stoff ins Verhältnis zur Klimaverantwortlichkeit. Was absurd erscheint, geht in der Produktion problemlos auf. Ödipus Mutter, nach dem Tod ihres Mannes Chefin einer Chemikalien-Firma, muss sich ihres eigenen Verhältnisses zur Umwelt bewusst werden. Der Plot um Ödipus integriert mühelos diesen Zusatz und verschiebt weiterhin den Akzent von einer Befragung des eigenen Schicksals hin zum Kollektiv. Die Konflikte auf der Bühne potenzieren sich, bis hin zum tragischen Höhepunkt, der wiederum den Zuschauenden wohl bekannt ist.
Konflikt auf der Bühne lässt sich vielfältig darstellen. Dabei muss, lerne ich von Maja, das Ende nicht immer bekannt sein, während man schreibt. Vielmehr lässt sie die Geschichte sich selbst entfalten, die Figuren aufeinandertreffen und den Konflikt sich aus den Anlagen der Charaktere entwickeln, bis die Lösung als sinnig erscheint. So ist zum Beispiel das Stück reden über sex entstanden, das erst im Dezember 2021 seine Premiere an der Schaubühne feierte. Hier treffen fünf Figuren aufeinander, die sexuelle Erfahrungen, Wünsche und Schwierigkeiten teilen und dabei auf Yogamatten stehen.
Was als Sinnbild des Prenzlauer Bergs gelten könnte, hat eine erstaunliche Wirkung auf das Publikum. Zwar ist das Reden über Sex längst kein Tabu mehr, aber die Explizitheit der Gespräche entlockt vielen Besucher*innen doch eine Gemütsregung. Ein anderes Beispiel dafür ist die Inszenierung abgrund, ebenfalls von Maja und aufgeführt unter Regi von Thomas Ostermeier. Die Zuschauenden tragen während der Vorstellung Kopfhörer. Das Audiofeature ermöglicht ein Eintauchen in die Gespräche der Figuren, als würde man neben ihnen sitzen am Küchentisch, nahezu Teil des Gesprächs sein. Es erzeugt Intimssphäre und Authentizität, erlaubt höhere Sprechgeschwindigkeiten und spontane Sprecher*innenwechsel. Aber zurück zu reden über sex: Das Stück ist dabei keinesfalls ein Versuch der Aufklärung. Seelenstriptease, den Begriff habe ich in der Rezension von Georg Kasch bei nachtkritik.de über das Stück aufgeschnappt, beschreibt viel eher, was es heißt, auch über das in so vielen Konversationen zensierte zu sprechen. Striptease also im besten Sinne, auf der Bühne und im Publikum.
Wer braucht also noch die Fesseln der Mythologie, der Konvention, die Zepter der Götter und Göttinnen, um ein Theaterstück zu schreiben? An der Schaubühne gibt es sie nicht mehr, dafür aber jede Menge Gesprächspotenzial.
Foto: Jeremy Bezanger