Zum Jahreswechsel sieht sich jede Kulturinstitution der Stadt in der Pflicht, dem musik-, theater- und opernhungrigen Publikum ein Angebot zu machen, das an Strahlkraft mit dem Feuerwerk dieser Nacht konkurrieren kann. Gewonnen hat bei dem Wettkampf um die beste Veranstaltung in diesem Jahr das Deutsche Sinfonieorchester, das zusammen mit Artisten und Artistinnen des Circus Roncalli im Tempodrom eine mitreißende und liebenswürdige Weihnachtsrevue dargeboten hat.

Dass die Pandemie auch im neuen Jahr 2022 das Land fest im Griff hat, merkt man auch bei den Kulturveranstaltungen rund um den Jahreswechsel. Einerseits ist die Freude darüber groß, dass diese Veranstaltungen überhaupt stattfinden können, weiß man nach dem Trauma der monatelangen Theaterschließungen doch, dass kein gespielter Ton, kein noch so kleiner Erinnerungsschnipsel eines Konzertabends eine Selbstverständlichkeit ist. Andererseits sorgen die unterschiedlichen Regelungen, Hygienekonzepte und Einlassvoraussetzungen hier und da für große Verwirrungen. So auch am Abend des 01. Januars am Tempodrom. Wo andernorts die Geboosterten von der 2G+Regel ausgenommen sind, verlangt die Veranstaltungsleitung an diesem Abend nun vom gesamten Publikum einen negativen Antigen-Test – alles, ohne dies vorher bekannt gegeben zu haben. Es ist vergnüglich zu sehen, wie die entnervte Menge nun den winzigen Testbus entert, der nahe des Tempodroms aufgestellt ist, und der dem Ansturm der Ungetesteten kaum gewachsen ist. Glücklicherweise ist man hierorts gnädig und lässt selbst jene noch in den Saal, die erst über eine halbe Stunde nach Vorstellungsbeginn ihren Test vorweisen können.

Betritt man dann aber das Zelt des Tempodroms, ist schnell jeder Ärger vom Eingang vergeben und vergessen Rasch fällt auf, dass es sich bei dem Betonzelt auf dem Gelände des ehemaligen Anhalter Bahnhofs um ein ganz besonderes Haus handelt. Blickt man bis zur Spitze des Zeltdachs aus Beton hoch, meint man, in den Himmel selbst zu sehen und kann sich kaum vorstellen, dass die Idee des Tempodroms in Form eines einfachen Zirkuszeltes auf die Westberliner Krankenschwester Irene Moessinger zurück geht. Diese hatte in den frühen 1980er Jahren an anderer Stelle ein beträchtliches Erbe investierte, um ein eigenes Zirkuszelt aufzupflanzen. Vielleicht funktioniert auch deswegen das Konzept dieses Neujahrsabends so grandios, wo man auf die Wurzeln der Tempodrom-Idee als stationären Zirkusbaus zurückgreift.

Als dann das Deutsche Symphonie-Orchester unter der Leitung von Maestro James Gaffigan feinste Klänge in den Äther des Tempodrom schickt und dazu die Artistinnen und Artisten des Circus Roncalli präziseste Performances in die Mange zaubern, fühlt man sich zurückversetzt. Zurückversetzt in eine Zeit, in der die großen Zirkusse Europas riesige Arenen aufrichteten, tausende Menschen in ihre Zelte zogen, in denen patente Damen 15 Löwen dressierten und dabei mit fußballgroßen Bällen jonglierten. Ganz so dick tragen DSO und Roncalli zwar nicht auf, bleiben aber auf ihre eigene Art und Weise zauberhaft. Man kann die Köpfe hinter diesem Abend nur loben, denn hier stimmt Vieles – ja, all‘ die Schwächen, die sich bei der einen Gruppe ergeben, werden durch die andere gleich ausgemerzt und so ergibt sich hier an diesem Neujahrsabend eine perfekte Symbiose aus Artisterie und symphonischer Musik. Ja, man ist bewegt zu fordern, dass künftig alle Zirkusse mit einem so großen Sinfonieorchester ausgestattet werden sollten, denn der Zauber, der hier entsteht ist einzigartig.

Foto: Kai Bienert

Hier greift alles optimal ineinander und so passen die ausgewählten Stücke stets sehr trefflich zu den Nummern der Artistinnen und Artisten. Es ist etwas ganz besonderes, wenn etwa die Truppe ,,Jump’n’Roll‘‘ zu Ligetis Molto Vivace aus dem ,,Concert Romanesc‘‘ tollkühne Salti und hohe Sprünge performt oder wenn das ,,Duo Elva‘‘ bestehend aus zwei ganz graziösen Damen zu den Klängen von James Newton Howards Filmmusik zu ,,The Prince of Tides‘‘ an einem Ring die wildesten Verrenkungen vollzieht und scheinbar schwerelos durch den Himmel des Tempodroms gleitet, ja fliegt. Apropos fliegen: angeblich zum ersten Male nach über zwei Jahrzehnten zeigt Roncalli im Tempodrom auch die Nummer ,,Menschliche Kanonenkugel‘‘, bei der die Artistin Robin Valencia in knallrotem Motorraddress ein circa vier Meter langes Kanonenrohr besteigt, um dann zum Galopp aus der Ballettsuite Nr. 1 von Schostakowitsch mit einem ohrenbetäubenden Knall hoch über der Manege in ein riesiges Luftkissen zu springen, nein zu fliegen. Da hört man die Massen, die sich im Tempodrom versammelt haben aufjauchzen und es folgt ein rasender Applaus, der sich passend zur Musik ins Unermessliche steigert.

Doch auch die zweite Hälfte des Abends bleibt mitreißend und als am Ende sämtliche Artistinnen und Artisten zu Fucik ,,Einzug der Gladiatoren‘‘ noch einmal in die Manege kommen, ist das Publikum fast nicht mehr zu halten, und applaudiert solange, bis der überaus dynamische Maestro Gaffigan zu einer Zugabe ansetzt. Das Silvester- bzw. Neujahrskonzert des Deutschen Symphonie Orchesters mit den Artistinnen und Artisten des Circus Roncalli sollte sich ein jeder in den neu aufgeschlagenen Kalender für 2022 notieren. Gerade rund um den Jahreswechsel ist es sehr wohltuend, ein wenig Leichtigkeit und gute Laune ganz abseits von nervenaufreibenden und tiefgehenden inhaltlichen Befassungen mit konkreten Themen zu erleben.


Foto: Kai Bienert