Die Corona-Pandemie hat den Universitätsbetrieb grundlegend auf den Kopf gestellt. Wie ist es, Vorlesungen von zu Hause aus zu halten und welche Rolle wird die Digitalisierung zukünftig an der Uni spielen? Drei HU-Professoren im Gespräch über Lehre und Verantwortung in der Pandemie.
Das Studium vieler Studierender hat in den letzten drei Semestern fast ausschließlich auf dem Laptop-Bildschirm stattgefunden. Lohnend ist daher ein Blick auf die andere Seite der Zoom-Leitung, ein Blick auf die Sicht der Dozierenden. Professor Stefan Müller arbeitet am Institut für deutsche Sprache und Linguistik, wo er sich mit Grammatiktheorien und Computerlinguistik beschäftigt. Professor Axel Metzger hat den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Immaterialgüterrecht inne und Professor Luís Greco führt den Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht. Wie ist es von zu Hause aus eine Vorlesung zu halten?
Stefan Müller: „Nur vier bis sechs Studenten haben Ihre Kamera angemacht und das war echt richtig schlimm, das haben auch die anderen Lehrenden gesagt. In einer normalen Vorlesung merken Sie sofort, ob die Leute zufrieden sind oder nicht, online redet man nur gegen eine Wand.“
Ein beachtlicher Teil unserer Kommunikation passiert auf der nonverbalen Ebene. Professor Greco erläutert, dass er in einer Präsenzvorlesung die ganze Zeit mit den Studierenden kommunizieren könne, ohne überhaupt mit ihnen sprechen zu müssen, beispielsweise durch Blickkontakt oder Körpersprache. Dies sei über Zoom nicht möglich.
Mit einer völlig anderen Belastung hatte Professor Metzger zu kämpfen. Er kümmerte sich parallel zu den zehn Online-Semesterwochenstunden um drei jüngere Kinder. Da seine Frau zu dieser Zeit voll berufstätig gewesen sei, mussten die Vorlesungen und das Homeschooling nebenbei laufen. Mit der Doppelbelastung aus Kinderbetreuung und Homeoffice gehört Herr Metzger zu einer Minderheit von Männern, die dieser Herausforderung ausgesetzt waren. Studien zeigen, dass vor allem Frauen dieser Last standhalten mussten.
„Ich wollte, dass die Situation nur eine provisorische bleibt.“
Der erste Lockdown im März 2020 und das darauf folgende Wintersemester wird noch eine lange Zeit im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft bleiben. Es sind vor allem die unterschiedlichen Reaktionen der Menschen auf die neue Situation, welche diese Zeit so besonders machen. Professor Müller berichtet von einer kontinuierlich sinkenden Zahl an Vorlesungsteilnehmer*innen, die sich aktiv beteiligten. Herr Greco hatte sich am Anfang der Pandemie geweigert, überhaupt eine synchrone Vorlesung zu halten und stattdessen ein aufwendiges asynchrones Konzept bereitgestellt.
Luís Greco: „Ich wollte, dass die Situation nur eine provisorische bleibt. Jede Ausnahme trägt in sich das Potenzial zur Regel zu werden, ich wollte dadurch eine Entwicklung der Universität in Richtung Ökonomisierung, Massifizierung und Entpersonalisierung verhindern, denn je erträglicher eine Situation ist, desto länger kann sie bestehen bleiben.“
Aber die Weigerung synchron zu unterrichten bedeutete auch, diejenigen zu bestrafen, die unter der Situation sowieso schon zu leiden hatten. Herr Greco gab nach, denn besonders den Studierenden des ersten Semesters schuldete er die Onlinevorlesung. Aber war sein Widerstand gerechtfertigt? Professor Müller verweist hier auf die Faktenlage und bezeichnete es als „extrem gefährlich“, wenn Geisteswissenschaftler*innen eine pandemische Lage bewerten, von dessen Zusammenhängen sie keine Ahnung hätten. So nannte er auch die #nichtnuronline- Bewegung auf Twitter rücksichtslos und egoistisch. Diese hatte inmitten der dritten Ansteckungswelle Forderungen nach einer schrittweisen Öffnung der Universität gestellt. Ein laufender Universitätsbetrieb sei jedoch epidemiologisch der „Worst-Case“, da alle 90 Minuten die Seminargruppen neu zusammengesetzt werden würden, so Müller.
„Ihnen ist der Preis nicht bewusst gewesen, den sie zahlen mussten, um zu Hause bleiben zu können.“
Auch Professor Metzger sprach mit uns über die #nichtnuronline-Bewegung. Er ist ein Unterstützer der Studierenden, die Anfang 2021 für mehr Präsenzlehre demonstriert hatten.
Axel Metzger: „Das war für mich einer der finstersten Momente meiner Unilaufbahn, als ich im April vor dem Universitätsgebäude stand und gerade mal 50 Studierende habe demonstrieren sehen. Mir hat die Stimme der Studierenden im letzten Jahr gefehlt.“
Die allgemeine Zurückhaltung erklärt Herr Greco damit, dass viele Menschen, gerade unter den Kolleginnen und Kollegen, es „großartig“ fänden, wenn sie die Bequemlichkeit ihrer Wohnung nicht mehr verlassen müssten. Eine Onlinevorlesung wäre billiger, schneller und unkomplizierter, aber im Grunde ein Verrat an der Idee der Universität. Unterstützend käme noch hinzu, dass heutzutage sowieso ein großer Teil des Lebens in einer „irrealen Sphäre“ ablaufe und sich der Lockdown ohne Netflix, Amazon und Zoom niemals so lange gehalten hätte. Auch Herr Metzger denkt, dass einer der Gründe für den mangelnden Protest Bequemlichkeit gewesen sei und dass vielen Studierenden der Preis nicht bewusst gewesen sei, den sie zahlen mussten, um zuhause zu bleiben – der Verzicht auf den Lebensraum Universität, den Austausch von Ideen und die soziale Dimension des gemeinsamen Lernens. Jedoch bewertete er auch den hohen Grad an gesellschaftlicher Verantwortung unter den Studierenden als maßgeblich.
„Die Digitalisierung ist der Idee der Universität eigentlich fremd.“
Nicht nur bei den Menschen wird die Pandemie ihre Spuren hinterlassen, sondern auch in der Universität selbst. Wird es in Zukunft unabhängig von Corona mehr Online-Angebote geben?
Professor Metzger erläutert, dass man zumindest darüber sprechen könne, ob manche Vorlesungen in Zukunft aufgezeichnet werden sollten, damit Studierende sich diese im Nachhinein auch mehrmals anhören könnten. Jedoch warnt er eindringlich davor, den Weg in Richtung einer Fernuniversität einzuschlagen. Auch Herr Müller weist darauf hin, dass mehr Online-Angebote das Studium flexibler gestalten würden, jedoch beschreibt er ein bemerkenswertes Phänomen, welches sich während der Online-Lehre gezeigt habe: Während der Lockdowns hätten sich die Ergebnisse in den Klausuren verändert. Früher habe man die Verteilung der Noten mit einer Glockenkurve abbilden können. Es habe wenige Einsen und wenige Fünfen, dafür aber viele Noten im mittleren Bereich gegeben. Während des Onlinesemesters sei dies aber genau umgekehrt gewesen, es habe sich gezeigt, dass die Studierenden entweder sehr gut mit der Situation umgehen konnten oder sehr schlecht.
Professor Greco beschreibt die zukünftige Rolle der Online-Lehre in der Universität folgendermaßen: „Die Digitalisierung steht in einem Spannungsverhältnis zur Idee der Universität. Eine Entwicklung Richtung Massenuniversität, Richtung Effizienz hat an der Universität, die einem individuellen Bildungsideal verpflichtet ist, nichts verloren. Es gibt viele Unternehmen, die sehr viel Geld damit verdienen, Menschen aus der Realität in eine digitale Welt zu holen, die zwar billig und effizient, aber eben nur eine Kopie ist. Deshalb sollte die Universität sich von dieser Dynamik nicht verführen lassen, sondern Widerstand leisten.“
Die Präsenzlehre spielt in der Universität eine übergeordnete Rolle. Hätten sich Lehrende und Studierende also mehr gegen die Maßnahmen der Universitätsleitungen zur Wehr setzen müssen? Nicht in Vergessenheit geraten darf, dass in Deutschland trotz aller Einschränkungen fast 93.000 Menschen an oder mit Corona gestorben sind, weltweit sind es 4,5 Millionen. Um die Zahl der Intensivpatienten gering zu halten, tauschten Studierende drei Semester lang, ihr normales Leben gegen die Online-Lehre ein. Sie selbst gehörten nicht zur Risikogruppe. Der Vorwurf der Bequemlichkeit ist angesichts der hohen psychischen Belastungen und des imsensen Verzichts der Studierenden, fehlplatziert. Es wäre angemessen, ihnen in dieser Debatte mehr Anerkennung entgegen zu bringen.
Dieser Text ist in der UnAufgefordert #258 zum Thema „Back to old school“ im November 2021 erschienen.
Foto: Chris Montgomery/ unsplash