Prof. Dr. Philipp Felsch ist Dozent am Institut für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Er möchte gleich mehrere Seminare in Präsenz veranstalten und hat mit der UnAufgefordert über die neuen Chancen der Präsenzlehre gesprochen. 

UnAuf: In diesem Wintersemester betreuen Sie sechs Veranstaltungen – manche davon als Präsenzformat. Wie werden Sie die ersten Veranstaltungen nach drei Digitalsemestern gestalten? Haben Sie Erwartungen oder Befürchtungen?

Prof. Philipp Felsch: Ich werde, soweit das möglich ist, Präsenzveranstaltungen geben. Meine Vorlesungen werde ich zumindest noch ein Semester per Zoom schalten. Das halte ich für keine große Einbuße. Entscheidend ist für die Geisteswissenschaften aber das Seminar. Das Seminar lässt sich nicht adäquat digital abbilden, weil einfach zu viele Elemente, die auf physische Anwesenheit angewiesen sind, verloren gehen. Das haben wir auch in den letzten Semestern beobachten können.

„Ich werde zumindest versuchen, meine Seminare so weit wie möglich in Präsenz zu veranstalten.“

UnAuf: Blicken Sie dem Start der Präsenzlehre auch mit Sorgen entgegen?

Felsch: Nein, ich sehe den Neustart vor allem als Chance. Ich kann mir vorstellen, dass man mit den Studierenden in Zukunft mehr Meta-Reflexion betreiben wird: Warum sitzen wir zusammen? Ist das notwendig? Welche Vorteile hat das, und wie können wir das ausnutzen? Mit anderen Worten: Man wird sich vielleicht der Errungenschaft der Präsenzlehre ganz anders bewusst als in der Vergangenheit sein, wo man diese einfach für selbstverständlich hielt.

UnAuf: Das Wort „Präsenzlehre“ beinhaltet bereits eine Alternative, die so vorher nicht gedacht wurde. Wie sehen Sie das?

Felsch: Ich halte diese sprachliche Markierung – das ist vermutlich nicht typisch für einen Kulturwissenschaftler – gar nicht für so entscheidend. Die Frage steht so oder so im Raum: Wollen wir eine bestimmte Veranstaltung – und da schließe ich jetzt auch Institutsräte, die akademische Selbstverwaltung, Kolloquien, Konferenzen bis hin zur Lehre mit ein – wollen wir die in Präsenz oder in Absenz veranstalten? Mit dieser Frage werden wir in Zukunft umzugehen haben. Was mich selbst fast frappiert hat. Es gibt gerade auch zahlreiche Studierende, die in der Digitallehre große Vorteile sehen.

UnAuf: Was genau hat sie daran so überrascht?

Felsch: Da geht es um Themen, für die wir in den letzten Jahren eine große Sensibilität entwickelt haben: Minderheitenschutz, Inklusion, Vulnerabilität. Solche Stichworte sind in der Debatte um die Frage nach Präsenz oder digitaler Lehre gefallen, bis hin zum Argument, dass sich ein Präsenzstudium in Berlin sowieso niemand mehr leisten kann, weil die Mieten zu teuer sind. Wenn Studierende schon in Eberswalde oder sonst wo am Stadtrand wohnen, ist das natürlich auch ein triftiges Argument. Trotz allem darf man die Versäumnisse der Berliner Wohnungspolitik nicht mit der Frage der Präsenzlehre verknüpfen. Was ich sagen will ist, dass Anwesenheit natürlich auch mit Zumutung einhergeht.

UnAuf: Wie meinen Sie das?

Foto: Privat

Felsch: Je länger der digitale Status Quo aufrechterhalten wird, desto stärker verschieben sich die grundsätzlichen Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien. Ich kann mich an meine eigene Studienzeit erinnern. Ich fand es teilweise unangenehm, vor dreißig Leuten sprechen zu müssen. Nach drei digitalen Semestern auf einmal wieder dazu gezwungen zu werden, in die Universität zu gehen, sich ständig exponieren und dem aussetzen zu müssen – das kann mit einem Mal als unverhältnismäßige Zumutung erscheinen. So berechtigt diese Anliegen auch sein mögen, halte ich es aber trotzdem für gefährlich, dass wir ihnen das Prinzip der Anwesenheit opfern. Der Wert der Präsenz für die Universitäten ist so groß, dass wir unbedingt an ihr festhalten müssen.

UnAuf: Wo halten Sie dann die Digitallehre für sinnvoll, und wo sehen sie eine Verflachung des akademischen Lehrbetriebes?

Felsch: Für große Veranstaltungen wie Vorlesungen, gerade wenn es noch pandemische Risiken gibt, finde ich es vertretbar, solche Veranstaltungen bis auf weiteres digital durchzuführen. Für den Präsenzbetrieb gilt die 3G-Regel. Die Universitätsleitung wird Wachschutz damit beauftragen, die Teilnehmer*innen durch Stichproben an den Eingängen der Institutsgebäude zu kontrollieren. Das ist schon logistisch ein riesiges Problem. Für uns als Dozierende stellt sich die Frage, ob wir in unseren Veranstaltungen nachprüfen dürfen. Zudem ist erforderlich, dass man nach jeder Veranstaltung den Seminar- oder Vorlesungssaal desinfiziert, und auch das wird in den Händen der Dozierenden liegen. Wie das genau funktionieren soll, weiß auch noch niemand. Wer kümmert sich darum, dass Material da ist? Wer bezahlt das? Das sind alles zwar vermeintlich kleine Fragen, die aber zu großen Unklarheiten führen können.

UnAuf: Klingt so, als hinge der Erfolg der Präsenzlehre in diesem Wintersemester stark von den Dozierenden ab. Was glauben Sie, wird auf die Dozierenden zukommen?

Felsch: Vor allem wird ein gewisses Maß an Improvisationsbereitschaft erforderlich sein. Ich bin eigentlich zuversichtlich, dass wir das kooperativ zusammen mit den Studierenden lösen können. Dazu zählen Fragen nach der Nachprüfung der 3G-Regelung zum Beispiel oder nach Anwesenheitslisten, um die Teilnehmenden nachverfolgen zu können. Es wird ein Übergangssemester mit vielen unterschiedlichen Einzellösungen sein.

„Vor allem wird ein gewisses Maß an Improvisationsbereitschaft erforderlich sein. “

UnAuf: Im kommenden Wintersemester werden sogenannte Blended Learning-Angebote eingeführt. Dieses Format basiert auf dem Prinzip der Solidarität. Kommiliton*innen sollen sich gegenseitig den Vortritt zu den Präsenzveransaltungen lassen, indem sie nicht jede Woche im Seminarraum erscheinen. Halten Sie das für machbar?

Felsch: Ich glaube, das müssen sich auch die Dozierenden erst einmal überlegen. Für die Umsetzung gibt es unzählige Möglichkeiten. Da sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Durch den Wegfall der Abstandsregeln haben wie wieder mehr Räume zur Verfügung. In diesen Räumen können sich zum Beispiel interessierte Kursteilnehmer*innen versammeln und von dort aus an der Zoom-Sitzung teilnehmen. Das ist eine Idee, die bei uns am Institut kursiert. Dann können die Dozierenden vor Ort sein, müssen es aber nicht unbedingt. Wir rüsten derzeit unsere Seminarräume dafür aus, Präsenzseminare möglichst sinnvoll digital übertragen zu können. Ich kann mir vorstellen, dass davon auch in Zukunft Gebrauch gemacht wird.

UnAuf: Das klingt nach Innovationsdruck. Noch vor der Pandemie gab es Kritik darüber, dass der Lehrbetrieb in den Seminaren zu verschult sei. Jetzt scheint sich eine Chance zu ergeben, das Präsenzangebot zu reformieren.

Felsch: Wie gesagt: Ich freue mich sehr, dass wir wieder zur Präsenzlehre zurückkehren. Wir werden uns vermutlich alle bewusster als vorher darüber sein, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine große Errungenschaft darstellt, die wir natürlich auch besser begründen müssen. Wir werden uns während des Semesters fragen müssen, ob die Präsenzlehre wirklich so viel besser ist oder ob wir sie im Lockdown bereits nostalgisch verklärt haben.

UnAuf: Was würden Sie Studierenden raten, die nun das erste Mal Präsenzlehre erfahren dürfen?

Felsch: Zwei Punkte: A) Nehmen Sie die Gelegenheit wahr, denn es wird natürlich auch die Möglichkeit geben, diesen Winter weiterhin in digitaler Sicherheit zu studieren. Selbst wenn Sie sich jetzt an das digitale Studium gewöhnt haben, nehmen Sie die Möglichkeit wahr und probieren Sie das aus. Damit zusammenhängend eben dann auch der zweite Punkt: B) Präsenzlehre geht auch mit gewissen Zumutungen einher. Sie müssen sich ausweisen, sie werden eventuell nachgeprüft, sie müssen sich vor Ihren Kommilitonen exponieren. Setzen Sie sich dem aus. Wir sind eine Präsenzuniversität, die gesamte Lehre ist auf Präsenz zugeschnitten. Ich glaube, im Rahmen eines Präsenzstudium ist sehr viel mehr möglich, gerade für diejenigen, die neu nach Berlin gekommen sind. Das gilt nicht zuletzt auch in sozialer Hinsicht im Vergleich zum isolierten Studium vor dem heimischen Rechner.


Dieser Text ist in der UnAufgefordert #258 zum Thema „Back to old school“ im November 2021 erschienen. 

Foto: Nathan Umlao/ unsplash