Unsere Autorin Malin hat sich mit Maria Stuart einen Theaterklassiker am Düsseldorfer Schauspielhaus angeschaut. Laura Linnenbaums Inszenierung wirft bei ihr die Frage auf, was der Klassikerstatus von Theaterstücken eigentlich heute noch bedeutet. Vorhang auf für Folge 7: Rote Rosen

Die Entscheidung ist gefallen: Maria Stuart muss sterben. Königin Elisabeth sitzt am Abgrund des Bühne, über ihr schwebt massiver Beton und die erdrückende Stimmung der bevorstehenden Exekution. Als Hildegard Knefs „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ im letzten Akt ertönt, wird das Theaterstück Maria Stuart am Düsseldorfer Schauspielhaus vom brutalistischen Klassiker zum sanften Gefühlsdrama. Ein vermeintlicher Gegensatz, den die Regisseurin Laura Linnenbaum in ihrer jüngsten Inszenierung gekonnt in Szene setzt. Mit Minna Wündrich als Elisabeth, Königin von England und Judith Bohle als Maria Stuart, Königin von Schottland, entspannt sie das Drama Schillers zwar nicht neu um das Recht auf die Krone, aber büßt nichts an der Wirkungskraft des Stoffes ein. Aber was führt eigentlich dazu, dass wir Stücke, wie Hamlet, Maria Stuart oder Orlando in den vielfältigsten Inszenierungen über Jahrhunderte hinweg auf der Bühne sehen? Sind sie schlicht Publikumslieblinge oder mangelt es an neuen Stücken? Was macht den Klassiker zum Klassiker?

Ein Blick auf die Gegenwartsdramatik genügt, um sicher sagen zu können, dass das wohl nicht als Argument gegen den Klassiker verwendet werden kann. Vielmehr ließe sich auch eine ganze Spielzeit mit den Stücken von Jelinek, Berg, Abdel-Maksoud oder Ben Yishai gestalten, die Spielarten und Textformen in ihren radikalsten Formen präsentieren. Als Kommentar zum Zeitgeschehen, wie zum Beispiel Jelineks Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! Stück zur Corona Pandemie, ist die Bühne MIttelpunkt kultureller Auseinandersetzung mit dem Jetzt. Dass das nicht nur für aktuelle Themen, sondern auch strukturell gesellschaftliche Missverhältnisse gilt, machen Regisseur*innen wie Katie Mitchell, Laura Linnenbaum und Christina Tscharyisk klar. Ihre Interpretationen klassischer Texte sind Betonungen der Missstände, die gesellschaftlich und literarisch zwar längst nicht mehr unbenutzt, aber immer noch drängend aktuell sind.

Für Maria Stuart scheint das der Fall zu sein – konkretisiert man das Thema auf die weibliche Herrschaft und Macht in einem patriarchalen System. Ist Elisabeth einerseits Herrscherin über England, kann sie andererseits keinen freien Willen ausüben. Sie muss sich dem Willen des Volkes, die Hinrichtung der Gefangenen Maria Stuart, beugen. Im Moment der Entscheidung ist sie allein, die Stimmen der Berater im Kopf, das wütende Volk vor dem Palast. Minna Wündrich ist die selbstbewusste und gleichzeitig verletzliche Elisabeth; sie wechselt vom Ballrock zum Hosenanzug, durchschreitet das mehrstufige Bühnenbild mit sicheren Schritten und kann doch den Zweifeln und dem systematischen Druck nicht entfliehen. Ein Dilemma, das schon auf unterschiedlichste Weise inszeniert worden ist, aber durch Laura Linnenbaum eine neue Perspektive gewonnen hat. Judith Bohle spielt Maria Stuart mit Hingabe. Ihrer Rolle schreibt sie die Widersprüchlichkeit der eigenen Identität ein, wenn sie kniend vor Elisabeth um die Vergebung ihrer Schuld weint und schließlich im Wissen um ihr Recht dem Todesurteil entgegengeht. Die Komplexität des Stoffes zeichnet sich durch seine häufigen Perspektivwechsel aus. Stehen immer mal wieder die männlichen Figuren, Berater und Geliebte, der beiden Königinnen im Vordergrund, changiert die Inszenierung aber hauptsächlich zwischen Szenen mit Elisabeth und Maria. Wenn der gelenkte Blick auf das Subsystem der Berater und höfischen Angestellten fällt, dann erschließen sich die gekonnt gesetzten Stilbrüche im Bühnenbild, Kostüm, Mimik und Gestik einmal mehr.

Und es wäre wohl nicht zu viel Interpretation, wenn man der Musik eben dieses Wissen um die Widersprüchlichkeit des Klassikers zuschreiben mag und leise mitsummt, sobald es rote Rosen regnet. In ähnlicher Anmut präsentieren sich jüngste Inszenierungen Hamlets, wer dem Eidinger-Wahnsinn der Schaubühne in Berlin entkommen mag, oder auch Die Leiden des jungen Werther, Don Carlos oder Der Sandmann.  Aber der Klassiker allein reicht nicht – der Blickwinkel macht die Inszenierung aus. Zu hoffen wäre, dass es weitergeht mit den Auf- und Umarbeitungen dessen, was schon lange zum festen Repertoire gehört.


Foto: Jeremy Bezanger