Unser Autor wollte dieses Jahr fünf Monate in Moskau studieren. Doch dann kam der Krieg und schnell war klar, dass er Russland verlassen sollte. Hier berichtet er über seine letzten Tage in Russland.

Im Nachhinein hätte ich es wohl erwarten können. Anfang Januar flog ich nach Moskau, während an der ukrainischen Grenze Hunderttausend russische Soldaten aufmarschierten. Doch ich wollte fünf Monate in Russland studieren und das Land und seine Menschen kennenlernen: ihre Geschichten, ihre Erfahrungen, ihr Alltag. Denn wer die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im gesamten postsowjetischen Raum verstehen will, muss sich mit Russland beschäftigen. Besonders drastisch zeigte sich dies am 24. Februar 2022 – dem Tag an dem die russische Armee die Ukraine angriff.

Bis zuletzt hatte ich, und wohl auch viele andere, nicht geahnt, dass es soweit kommen würde. Ich erinnere mich, wie ich am Vorabend des russischen Einmarsches mit zwei Kommilitoninnen von der FU, die ebenfalls in Moskau studieren, ein georgisches Restaurant besuche. Wir ahnen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass, während wir Chinkali essen und ein Pianist Katjuscha spielt, sich Tausende russische Soldaten darauf vorbereiten, in den kommenden Stunden in das Nachbarland einzumarschieren.

Umso schockierender war dann der nächste Morgen, als ich – wie wohl die meisten – über Eilmeldungen von dem Einmarsch erfahre. Auf meinem Handy lese ich sorgenvolle Nachrichten von Freund*innen aus Berlin, die mich fragen, wie die Lage in Moskau ist. Tja, was soll ich antworten? Wenn ich aus dem Fenster sehe, fallen dort keine Bomben und die Menschen gehen normal zur Arbeit oder in die Schule.

Ich fahre etwas früher zu meinem Unikurs ins Stadtzentrum. Am Roten Platz scheint alles wie sonst zu sein: Menschen machen Selfies vor der Basilius-Kathedrale und dem Lenin-Mausoleum oder laufen Schlittschuh auf der Eisbahn vor dem Luxuseinkaufszentrum GUM. Doch die Polizeipräsenz ist noch einmal deutlich höher als sonst. Auf dem Manege-Platz und vor dem Bolschoi-Theater stehen Dutzende Mannschaftswagen, es gibt Lautsprecheransagen, die ich nicht verstehe. Ich fühle mich unwohl und will nur noch schnellstmöglich zur Uni.

Im Unikurs, der sich ironischerweise darum dreht, ob es einen Russian Path gibt, der erklärt, warum Russland handelt, wie es handelt, kann ich mich nicht wirklich konzentrieren. Und während ich über die Proteste auf dem nahegelegenen Puschkin-Platz lese, höre ich von draußen Menschen „Нет войне“ (Kein Krieg) rufen. Gerne würde ich mit den Menschen sprechen, was sie über den Krieg denken, doch Bekannte warnen davor, auch nur in die Nähe von ungenehmigten Protesten zu gehen. Zu groß wäre das Risiko, einfach festgenommen zu werden. Und wie ich später höre, wurden allein in Moskau an diesem Tag 150 Menschen bei Protesten festgenommen.

Krieg und Kulturnation

Am nächsten Morgen fahre ich auf einen schon länger geplanten Trip in die nördlich von Moskau gelegene Stadt Jaroslawl – die erste von einigen Reisen durch Russland, die ich für mein Auslandssemester geplant hatte. Aber jetzt kommt es mir auch ein bisschen vor wie eine Flucht aus Moskau, wo nicht klar ist, wie sich die Lage in den kommenden Tagen entwickelt. Am Bahnhof sehe ich eine Gruppe junger Soldaten mit schwerem Gepäck – wer weiß wo sie hinfahren. Am liebsten würde ich sie fragen, ob sie wirklich wissen, gegen wen sie da kämpfen sollen und welchen Sinn dieser Krieg hat.

Die Altstadt Jaroslawls gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Foto: Johann Stephanowitz

In Jaroslawl spaziere ich am Ufer der zugefrorenen Wolga entlang und blicke auf die Silhouette der als Unesco-Weltkulturerbe ausgezeichneten Altstadt. Ich denke, was für eine Kulturnation Russland doch eigentlich ist und kann immer noch nicht glauben, dass jetzt so etwas passiert. Ich hatte doch eigentlich so viel vor für die kommenden Monate: Ich wollte nach St. Petersburg, nach Kasan und an andere Orte reisen und diese kulturell reiche Seite von Russland zeigen, die vielen in Deutschland nicht bekannt ist. Das Russland viel mehr ist als Putin.

Abends streite ich mich mit meiner AirBnB-Vermieterin in Jaroslawl. Sie sagt, dass Putin jetzt den Krieg beende, den der Westen vor acht Jahren angefangen habe und er nun die Menschen im Donbas wieder in Sicherheit bringt. Und, dass Selenskyj nur ein Clown ist und kein Präsident. Wie leid ich diese ganze Putin-Propaganda bin!

Hier in Russland zu bleiben, das wäre einfach nur zynisch 

Trotz allem gibt sie mir am nächsten Tag eine sehr interessante Führung durch die Stadt. An einem ehemaligen Fabrikgebäude erzählt sie mir, dass dort ihre Großmutter im Zweiten Weltkrieg 16 Stunden am Tag gearbeitet hat, um die Rote Armee zu unterstützen, während die Deutschen die Stadt bombardierten. Und da fällt es aus mir heraus und ich sage ihr, dass die russische Armee gerade in der Ukraine das macht, was die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg in Russland gemacht hat. Vielleicht setzt ja bei ihr ein Umdenken ein.

Mir jedenfalls wird von Stunde zu Stunde mehr bewusst, dass ich Russland schnellstmöglich verlassen sollte. So kann ich etwa mit meiner Kreditkarte keine Bahntickets bezahlen und muss diese am Bahnhof vor Ort kaufen. Und angesichts der Nachrichten von Protesten und dem immer weiter fallenden Rubel-Kurs fürchte ich, dass es in Russland zu Unruhen kommen oder auch westliche Ausländer*innen angegriffen werden könnten.

Als ich Abends im Bett liege, lese ich Nachrichten von den ersten ukrainischen Flüchtlingen die in Berlin ankommen. Von den Helfer*innen am Hauptbahnhof, die mit Schildern Schlafplätze anbieten. Und ich sehe, wie Hunderttausende auf der Straße des 17. Juni demonstrieren. Ich schäme mich und fühle mich ohnmächtig: Ich sitze hier in Russland und mache Sightseeing, während in der Ukraine Menschen um ihr Leben bangen und fliehen. Während ich diese Bilder sehe, fällt endgültig die Entscheidung: Ich muss nicht nur zurück nach Berlin, sondern ich will. Um mitzuhelfen, zu schreiben, zu protestieren. Hier in Russland zu bleiben, das wäre einfach nur zynisch.

Parties feiern trotz Krieg

Am nächsten Tag lädt mich Robert*, ein Kommilitone aus Deutschland, spontan ins Dormitory zum Abendessen ein – so sehe ich das auch nochmal von innen. Im Dormitory gibt es wie so oft eine Party – zwei Studierende haben Geburtstag. Es wird Alkohol getrunken und Musik gespielt, so wie man es kennt, doch irgendwie fühlt sich alles falsch an. Kann man, nein darf man in so einer Lage überhaupt noch Spaß haben? Die aktuelle Situation ist das einzige Gesprächsthema des Abends. Es wird sich über mögliche Ausreiserouten ausgetauscht: Flug nach Zentralasien oder Istanbul oder doch nach St. Petersburg und dann über den Landweg nach Estland oder Finnland? Ich habe mich da schon entschieden und einen Flug nach Taschkent, also Usbekistan gebucht. Von dort geht es über Istanbul nach Deutschland zurück.

Ludwig*, ein anderer deutscher Austauschstudent, sagt mir immer wieder, er könne die ganze Situation nicht begreifen: „Es fühlt sich an als ob es Ende Juni und damit Semesterende wäre und in drei Tagen wieder alle in ihre Heimatländer zurückkehren.” Irgendwann gegen 2 Uhr rufe ich mir ein Taxi und husche nach ein paar Abschiedsumarmungen vorbei an den beiden Babuschkas am Eingang, die sich wundern warum ich als externer Gast noch da bin (eigentlich hätte ich nur bis 11 bleiben dürfen). Doch da bin ich schon draußen. Ich fahre ein letztes Mal durch die Moskauer Nacht. 22 Kilometer sind es bis zu meiner Wohnung in Moskau-Novogireevo: Vorbei am metallenen Denkmal für die Eroberer des Weltraums, am blinkenden Ostankino-Fernsehturm, an achtstöckigen Stalin- und zwanzigstöckigen Plattenbauten.

Der stille Protest am Grabmal des unbekannten Soldaten

An meinem vorletzten Tag in Moskau fahre ich zum Kreml, den ich in den zwei Monaten tatsächlich noch nicht besichtigt habe. Der Kreml – man könnte ihn in der aktuellen Lage auch als die „Höhle des Löwen“ bezeichnen – wird streng bewacht. An der Sicherheitskontrolle muss ich, wie am Flughafen, sogar meinen Gürtel ausziehen. Am sechsten Tag des Krieges besuchen fast keine Tourist*innen den Kreml, ich sehe nur Beamte in Anzug und Sicherheitsleute mit Gewehren, die genau hinschauen wo man lang läuft. Plötzlich erstarre ich: Etwas blechern erklingt vom Spasski-Turm der Kremlmauer die russische Hymne. Ich schaue auf die Uhr: Es ist 12. Doch es fühlt sich an wie eine Zeitreise, denn die Melodie dieser Hymne ist dieselbe, wie die der Sowjetunion. Putin hatte sie 2000 wiedereingeführt – freilich mit neuem Text.

Die Kathedralen des Moskauer Kreml aus dem 15. und 16. Jahrhundert sind sehr sehenswert – einige sind sogar von italienischen Architekten entworfen worden. Doch als ich den Senatspalast sehe, wo der russische Präsident seinen Sitz hat, denke ich dass sich dort hoffentlich irgendwann ein Museum befindet, in dem die Schrecken des Putin-Regimes aufgearbeitet werden.

Vor dem Kreml laufe ich zufällig am Grabmal des unbekannten Soldaten vorbei, wo gerade Wachablösung ist. Einen Tag vor Kriegsbeginn hatte Putin hier noch einen Kranz abgelegt. Neben dem Grabmal befinden sich Gedenksteine für die sogenannten Heldenstädte, die im Zweiten Weltkrieg besonders umkämpft waren: Unter anderem St. Petersburg, Minsk, Stalingrad und auch Kyjiw.

Gedenksteine für die sogenannten Heldenstädte – Gedenkstein für Kyjiw, Foto: Johann Stephanowitz

Und auf dem Gedenkstein für Kyjiw liegen Blumen – nur dort. Immer wieder bleiben Menschen dort stehen und halten kurz inne. Die Polizisten, die daneben stehen erkennen wohl nicht die Symbolik oder wollen sie nicht erkennen. Das sind die kleinen Zeichen des Protests, die ich in jenen Tagen in Moskau erkenne. Aber es gibt auch Zeichen eines aufblühenden Nationalismus, wie etwa Sportjacken von russischen Nationalteams. Das ikonische „Z“, das inzwischen zum Symbol für die russische Invasion geworden ist, sehe ich aber (noch) nicht.

Am nächsten Morgen packe ich meinen Koffer, in dem auch noch ein paar russische Spezialitäten Platz gefunden haben, und fahre zum Flughafen. Dort ist die Frau am Check-in etwas irritiert, für diesen Flug einen deutschen Pass vorgelegt zu bekommen. Darf ich überhaupt visumsfrei einreisen? Doch das ist schnell geklärt. Nun steht noch eine letzte Hürde bevor: die Passkontrolle. In der großen Halle sind nur wenige Schalter geöffnet und es geht nur langsam voran. Aus irgendeinem Grund sind die Kontrolleur*innen bei der Ausreise penibler als bei der Einreise. Lange kontrolliert die Beamtin mit einer Lupe meinen Pass und mein Visum, dann fragt sie: „Warum reisen Sie denn nach Taschkent?“

„Ich reise nur kurz ein, um dann weiter nach Deutschland zu fliegen. Der direkte Weg geht ja gerade nicht, leider“, sage ich.

„Ja, leider“, antwortet sie und stempelt meinen Pass.


* Namen von der Redaktion geändert

Foto: Johann Stephanowitz