Unsere Kolumnistin Malin wirft einen Blick auf und hinter die Kulissen der Gegenwartsdramatik. In der heutigen Folge: Der schlechte Ruf

„Ich gehe nicht ins Theater, da waren wir mal mit der Schule und da waren alle nackt und das Licht war viel zu grell. Voll peinlich so, hab ich einfach keinen Bock drauf, ok?”

Gehört in der U6, aufgeschrieben zuhause und dann überlegt: Ist das die verbreitete Haltung zum Gegenwartstheater? Gerade in Berlin, wo es das Angebot und die Vielzahl der Inszenierungen gibt, die namhaften Schauspieler*innen und die historischen Theaterhäuser, scheint ein schlechter Ruf des Theaters vorzuherrschen, der sich vornehmlich in der Nacktheit der Schauspielenden und dem exzessiven Einsatz von Kunstblut identifizieren lässt. Aber woher kommt dieser schlechte Ruf des Theaters? Ist er Relikt von Schulaufführungen, die man besuchen musste oder katastrophalen Abenden im Scheinwerferlicht? Ist noch etwas dran an der verkappten Anschuldigung nackter Körper und dröger Texte im Theater?

Aufatmend lässt sich feststellen: Das in der U6 flüchtig aufgeschnappte Statement zum Theater darf als Einzelfall gewertet werden, denn im Fokus der meisten Stücke 2021 stehen andere dramatische Mittel, beispielsweise die Einsätze von Kameras, Live-Streams auf übergroßen Bildschirmen auf der Bühne oder Live-Bands, die das Stück begleiten, scheinen dominante Features zu sein. Zuletzt in „Mutter Courage“ am Berliner Ensemble in der Spielzeit 2021/22 gesehen, werden kanonisierte Texte Brechts melangiert und von einer dreiköpfigen Band begleitet, deren Sound sich irgendwo zwischen Hans Eisler und russischem Underground-Techno einordnen ließe. Auf der Bühne dazu eine mausartige Mutation aus Pappmaché, eine Tribüne und ein roter Vorhang mit Arbeitersichel – fertig ist die aktuelle Inszenierung eines Brecht’schen Klassikers, der durch hervorragende schauspielerische Leistungen überzeugt und an Anspielungen auf gegenwärtige politische Auseinandersetzungen und Problematiken nahezu überquillt. Ein Abend, der gar nicht so sehr an die verrufenen, dem Theater zugeschriebenen, staubigen Abende erinnert, sondern mehr an lebendige Science-Fiction.

Ein ebenfalls herausragendes Beispiel moderner Theaterinszenierungen ist „Orlando“ von Virginia Woolf in der Regie von Katie Mitchell. Auch dieses Stück, dass bereits länger auf dem Spielplan der Berliner Schaubühne steht, setzt sich mit seiner textuellen Grundlage polemisch auseinander. Die Anlage des Stückes ist zweigeteilt und spaltet sich in die Darstellenden auf der Bühne und auf den Livestream des Gezeigten über dieser auf. Aus der dramaturgischen Gestaltung ergibt sich ein immersives Erlebnis, das unter Anderem  auch von dem barock-kitschigen Bühnen- und Kostümbild rühren mag, das schon vor dem Erklingen der ersten Worte ins Auge der Zuschauenden fällt.

Vielleicht kommt der schlechte Ruf auch aus der Idee heraus, dass auf dem Theater nur alte Schinken gespielt werden, derer Lektüre sich vermutlich einige schmerzlich erinnern. Ein Blick in die aktuellen Aufführungen am Berliner Maxim Gorki Theater: Als erstes zu finden ist die neu aufgenommene Inszenierungen „1000 Serpentinen Angst“ nach dem gleichnamigen Roman von Olivia Wenzel. Das erst 2020 erschienene Buch landete direkt auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und fand unmittelbar darauf Eingang in das Repertoir des Gorki Theaters. Damit wird besonders der Verschränkung von identitätspolitischen Themen und Literatur Ausdruck verliehen, die in einer zweistündigen Inszenierung ihren Höhepunkt findet. Ähnlich auch die Inszenierung „Streulicht“, nach dem Roman von Deniz Ohde, deren Geschichte einer Arbeitertochter dramatisch aufbereitet wird von Nurkan Erpulat.

Gegenwartsautor*innen, wie zum Beispiel die von Roland Schimmelpfennig, Sibylle Berg und Sasha Marianna Salzmann, haben längst Einzug gehalten in die Spielzeiten der Berliner Theater und gemeinsam mit Regisseur*innen und Dramaturg*innen die herausfordernde Aufgabe, den schlechten Ruf des Theaters zu entkräften.


Foto: Jeremy Bezanger