Am 7. Dezember 2022 wurde in Afghanistan ein Mensch öffentlich hingerichtet und seit dem 21. Dezember 2022 ist es Frauen untersagt, an der Universität zu studieren. Diese Ereignisse bilden eine Zäsur in der Geschichte Afghanistans. Es sind Marksteine auf dem Weg, den die Taliban seit ihrer Machtübernahme beschreiten und der den Aufbau eines islamischen Staates zum Ziel hat. Über den Krieg in Afghanistan, die Rolle des Westens und seine Verantwortung für die Zukunft spricht die UnAuf mit PD Dr. med. habil. Harun Badakhshi -Leiter der Charité Research Organisation und Vorstandsvorsitzender des Afghanistan Forums in Deutschland.

UnAuf: In Afghanistan herrscht seit 1978, ausgelöst durch den Staatsstreich der kommunistischen Partei Afghanistans und der anschließenden Invasion der Sowjetunion, Instabilität und mehr oder weniger latent Krieg. In welche Phasen kann man die Entwicklung einteilen?

Badakhshi: Im Grunde begann alles fünf Jahre vorher. 1973 kam es durch den Staatsstreich Daoud Khans zu einem Regimewechsel: Die von ihm proklamierte Republik löste die 40 Jahre herrschende Monarchie ab. Unmittelbar nach dem Putsch entstanden erste Spannungen. Das Militär, das Daoud bei seinem Staatsstreich unterstützt hatte, fühlte sich in seiner Herrschaft nicht angemessen repräsentiert.
1978 eskalierte die Situation in einem weiteren Coup d’Etat des Militärs. Bereits gegen die Ankündigung von Reformen, etwa einer Bodenreform oder der gesetzlichen Gleichstellung von Mann und Frau, regte sich Widerstand. Die Rebellion – vorwiegend der Landbevölkerung – war jedoch nur kultureller, nicht militärischer Art. Dennoch veranlasste sie die Militärregierung, zunehmend gegen Andersdenkende, insbesondere  Intellektuelle, vorzugehen und sie inhaftierte zu inhaftieren. Angesichts dessen marschierte die Sowjetunion unter Breschnew Ende 1979 in Afghanistan ein.
Gemäß seiner Politik der Perestroika zog Gorbatschow schließlich die sowjetischen Truppen aus Afghanistan ab und setzte eine neue Regierung ein. Ihre Herrschaft endete 1992 mit dem Einmarsch der Mujaheddin in Kabul. Mujaheddin sind Widerstandskämpfer mit diversen radikalislamischen Überzeugungen und politischen Zielen. Sie hatten aber einen gemeinsamen Feind: die kommunistische Regierung. Als die jedoch besiegt war, traten die Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppierungen wieder zutage und führten zu internen Kämpfen, die durch die Beteiligung arabischer Länder, teils auch der USA und Russlands, angeheizt und auf den Straßen Kabuls ausgetragen wurden.
1996 kam schließlich eine neue Gruppe an die Macht: die Taliban. Ihre Herrschaft war geprägt durch die Unterdrückung der grundlegendsten Rechte. Im Jahr 2001 marschierten schließlich die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten in Afghanistan ein. Eine Übergangsregierung wurde eingesetzt und später durch Wahlen legitimiert. Die zweite Machtübernahme der Taliban im August 2021 markiert das Ende dieser Republik.

In einer arte-Dokumentation hieß es, die Taliban hätten „viele Gesichter“. Stimmen Sie dem zu? 

Grundsätzlich kann man sagen, dass die Gruppe der Taliban homogen ist: Es handelt sich um Zusammenschlüsse beinahe ausschließlich paschtunischer Männer, deren Herkunft und Sozialisation sich ähneln. Sie stammen aus ländlichen Regionen und lernten in speziellen Religionsschulen, was ihre spezifische fundamentalistische Interpretation des Islam und damit einhergehend auch ihre Weltanschauung, sehr geprägt hat.
Dieses homogene Glaubenssystem der Taliban wirkt sich auf ihren Habitus und Regierungsstil aus: Auf Grundlage ihrer Dogmen schränken sie grundlegende Rechte von Frauen, etwa auf Bildung oder Arbeit, ein, unterdrücken ethnische Minderheiten und beschneiden die Pressefreiheit.
Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass sich daran seit ihrer ersten Herrschaft bis heute nichts verändert hat.

Wie steht die Zivilbevölkerung zu den Taliban?

Ehrlicherweise muss man sagen, dass ein Teil der Bevölkerung deshalb zufriedener ist, weil sich die Situation grob betrachtet beruhigt hat. Mit den Taliban sind diejenigen, die einen Großteil der Anschläge, Attentate und Amokläufe verübt hatten, nun an der Macht. Im Süden Afghanistans, aus denen die Taliban mehrheitlich stammen, ist weitgehend Ruhe eingetreten, weil die Taliban kaum gegen ihre eigenen Stämme vorgehen. Doch sie herrscht nicht überall. Im Norden und im Zentrum des Landes kann jedoch weder von Ruhe noch von Zufriedenheit die Rede sein. Nach wie vor fliehen die Menschen hier vor kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Taliban und denjenigen, die Widerstand leisten. Die Antwort gestaltet sich also komplexer und man muss nach Ort und ethnischer Zugehörigkeit differenzieren.

Sie haben schon kurz von der Invasion der NATO-Truppen in Afghanistan 2001 gesprochen. Was waren die Ziele dieser Mission?

Das primäre Ziel der NATO-Allianz war laut der US-amerikanischen Regierung, den Kern eines globalen terroristischen Netzwerkes zu bekämpfen. Als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 wollte man Osama Bin Laden, Al-Qaida und die sie umgebenden Organisationen, unter anderen die Taliban, lahmlegen. Es gibt sicher auch ökonomische, geopolitische und strategische Erwägungen, die eine Rolle spielten: Die Invasion der NATO-Truppen war ein Signal in Richtung Teheran, Moskau und Peking. Doch diese Faktoren sind aus meiner Sicht nebensächlich; als Hauptziel muss man den „Krieg gegen den Terror“ anerkennen.

Nachdem Bin Laden schließlich von amerikanischen Spezialeinheiten getötet wurde, änderte sich das Ziel des NATO-Einsatzes dahingehend, dass man „State-Building“ betreiben wollte. Heute ist Afghanistan von einem sicheren demokratischen Rechtsstaat weit entfernt. Waren die 20 Jahre Einsatz westlicher Truppen umsonst?

Nein, die 20 Jahre waren auf jeden Fall nicht umsonst. Der Westen, allen voran die USA, haben versucht, „State-Building“ zu betreiben. „Nation-Building“ wäre angesichts der multiethnischen Konstellationen und gesellschaftlichen Konflikten eine Utopie, aber der Staatsaufbau konnte durch den Einsatz von Strategie und Ressourcen geleistet werden. Die Hilfe auf nicht-militärischer Ebene und der Aufbau politischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen hatte durchaus Erfolg: Trotz widriger Bedingungen konnten Wahlen durchgeführt und Grundprinzipien demokratischer Herrschaft implementiert werden. Auch hat sich die Infrastruktur, besonders in den Städten, verbessert.
Die vielleicht größte Errungenschaft des Einsatzes war es, dass die Menschen Ansätze von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erlebt haben. Die entstandenen Ideen können auch durch die Waffengewalt der Taliban nicht aus den Köpfen der Menschen vertrieben werden.

Nachdem sie Afghanistan im Stich gelassen haben: Welche Verantwortung hat der Westen, die USA und Deutschland, die Menschen und ihre Ideen zu unterstützen?

Es ist ein Wechsel in der Strategie und Denkweise notwendig: Erstens darf die illegitime Taliban-Regierung keinesfalls anerkannt oder stabilisiert werden. Sie muss politisch und finanziell isoliert werden. Gleichzeitig muss weiterhin humanitäre Hilfe geleistet und die Bevölkerung mit Lebensmitteln und medizinischen Produkten versorgt werden. Das scheint ein Dilemma zu sein, aber es ist nicht unmöglich. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Unterstützung seitens westlicher Länder dezentral, flexibel und zielgerichtet organisiert wird. Dafür ist lokales, praktisches Wissen für die Vorgänge im Land wichtig. Deshalb wünsche ich mir, dass Regierungen die Expertise jener Menschen nutzen, die noch vor kurzer Zeit in Afghanistan gelebt haben und ihr Land kennen. Diaspora-Organisationen weltweit können einbezogen werden, um Wissen zu erwerben und effektiv Hilfe zu leisten.
Obwohl das System in Afghanistan nach dem Abzug der westlichen Truppen den Taliban nicht standhalten konnte, können sie nicht alle Errungenschaften rückgängig machen. Die Ideen von freier Presse, von freier Meinungsäußerung und Demokratie müssen am Leben bleiben! Das Ziel aller Anstrengungen des Westens muss es deshalb sein, die Menschen im Land so zu unterstützen, dass sie selbst aktiv werden und Veränderung bewirken können. Denn es sind nicht  Waffen, sondern Ideen, die die Menschen dazu befähigen, die Gewaltherrschaft der Taliban zu besiegen.


Foto: © Harun Badakhshi