Silent Sun of Russia ist ein erschütternd ehrlicher Film, ein Film voller visueller Metaphern und ästhetischer Aufnahmen, die beinahe vergessen lassen, dass es sich um einen Dokumentarfilm handelt.

In den letzten Jahren, in denen Putin in Russland an der Macht ist, haben sich langsam Veränderungen in dem Land vollzogen, die das heutige Leben von Millionen von Menschen im Land und darüber hinaus bestimmen. In diesen rund 20 Jahren ist eine ganze Generation aufgewachsen. Das Sammelbild dieser jungen und zukunftsorientierten Russen, ihr Leben nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine und ihr Streben nach Freiheit, spiegeln sich in dem Film Silent Sun of Russia

Im Rahmen des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm präsentierte das Kino Krokodil die Deutschlandpremiere des Debütfilms Silent Sun of Russia (Vi er Rusland) der dänischen Regisseurin Sybilla Tuxen. Der Dokumentarfilm begleitet drei russische Mädchen und ihre Lebensgeschichten über den Zeitraum von 2018 bis 2022 nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Der dänische Titel des Films, übersetzt Wir sind Russland verdeutlicht die Geschichte von Alika, Aljona und Katja, die als Quintessenz der jungen russischen Generation gelten. Sie streben nach einem Leben in Freiheit und können sich keine klare Zukunft in Russland vorstellen. Angesichts der propagandistischen Nachrichten im Fernsehen und der beunruhigenden Meldungen auf ihren Handys, die nahezu unaufhörlich von neuen Bombardierungen ukrainischer Städte und dem Tod von Zivilisten berichten, müssen sie dennoch vorankommen. Dies erfordert von ihnen, schwierige Entscheidungen zu treffen und die Ungewissheit zu ertragen.

Die Handlung von Silent Sun of Russia kann nicht als hastig bezeichnet werden. Die Abfolge von langsamen, quälend düsteren Bildern stellen die Seelenzustände der Protagonistinnen dar und regen zum Nachdenken über die Zukunft Russlands und den Menschen, die sie gestaltet oder eben nicht, weil sie das Land verlassen.

Für die Protagonistinnen läuft alles auf die ewige Frage hinaus: Was tun? Was tun, wenn man nicht mehr so leben kann wie bisher? Was tun, wenn man in der Familie keinen Rückhalt mehr findet? Was tun, wenn man sich hilflos und schuldig fühlt? Jede der jungen Frauen findet auf ihre eigene Weise ihren Platz in dieser neuen Realität. Ihre wachsende innere Zerrissenheit, ihr Schmerz und ihr Verlust spiegeln sich mit besonderer poetischer Kraft im Film wider. 

In Silent Sun of Russia ist die Sonne still, gedimmt, verborgen. Alles spielt sich in den Abend- oder Nachtstunden ab, auf Straßen, die nur schwach von Autoscheinwerfern und den Leuchtreklamen der Geschäfte erhellt werden, im Zwielicht der Innenhöfe, im Neonrausch der Partys und im sanften, warmen Licht der Küchenlampen. Die düstere Atmosphäre des Films suggeriert eine existenzielle Dunkelheit, in der die Menschen zu bloßen Schatten gegenüber den Lichtern der nächtlichen Stadt werden oder zu einsamen Gesichtern, die sich im blauen Licht eines Smartphones abzeichnen. 

Der Film ist geprägt von der Symbolik der Bewegung, die sich im Fluss des Regenwassers vom Dach, in der verschwommenen Landschaft vor dem Fenster eines rasenden Zuges, im Geräusch eines nächtlichen Taxis und in der Stimmen einer Demonstrantenkolonne verdichtet. Man fragt sich unwillkürlich: Wohin bewegt sich alles, die Schicksale der Menschen und die Geschicke der Nationen? 

Der Titel des Films und seine Handlung weisen unweigerlich eine Parallele auf. Vielleicht ist die Generation der jungen Russen eine Art Sonne für Russland. Sie ist still geworden, unauffällig und scheint fast nicht mehr, weil es notwendig ist, eine Abmachung mit dem eigenen Gewissen zu treffen und im Land zu bleiben oder zu fliehen. Sie muss ihr Glück suchen und die Welt zum Besseren verändern, zumindest im eigenen Leben. Die erschöpfte Sonne weiß schon nicht mehr, was besser ist, die Apathie in ihrem heimischen Plattenbau oder die Freiheit im Ausland, wo alles so fremd und ungewohnt ist. Bleibt nur zu hoffen, dass diese Sonne eines Tages in voller Kraft scheint. Und dann wird es wieder heller werden im Leben der Menschen und im Leben des Landes.

Silent Sun of Russia ist ein erschütternd ehrlicher Film, ein Film voller visueller Metaphern und ästhetischer Aufnahmen, die beinahe vergessen lassen, dass es sich um einen Dokumentarfilm handelt.


Foto: Yulia Kolgina