Sumeja* wohnt in Berlin, seit sie 9 Monate alt ist. Sie geht in die neunte Klasse eines Gymnasiums, trifft sich mit ihren Freundinnen am Kudamm und denkt auf Deutsch – Warum kann sie sich keine Zukunft in diesem Land vorstellen?

Mit ihrem ganzen Körper drückt Sumeja die große, beschlagene Haustür auf. Den dicken Schal hat sie bis zum Kinn gewickelt, das blaugraue Kopftuch gleicht der Farbe des Himmels. Sie lacht und umarmt mich. In den Fenstern des Altbaus im Berliner Wedding brennen erst ein paar kahle Glühbirnen. Sumeja kann sich nicht daran erinnern, je in einem anderen Haus gewohnt zu haben. Sie war neun Monate alt, als ihr Vater sie aus dem Norden Mazedoniens nachholte. „Wegen der Armut“, sagt sie. Sumejas Eltern gehören zur albanischen Minderheit, die seit Ende der achtziger Jahre strengen Restriktionen im Land ausgesetzt ist. 

Mehr als Zwei Drittel der Familien in dem Viertel beziehen Transferleistungen. Sumejas nicht. Ihre Mutter ist bereits vor Stunden aufgestanden. Sie putzt Büros in Moabit, bevor die ersten Mitarbeiter kommen. Ihr Vater schläft noch, er arbeitet bis spät abends in der Gastronomie. Weil ihre Schwester gerade ihren Verlobten in Mazedonien besucht, fühlt sich Sumeja oft einsam in der Wohnung. Auf dem Kissen in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer steht „Të dua.“ – Ich liebe dich, auf Albanisch. Sumeja hat den Namen ihrer Schwester mit Edding darunter geschrieben. 

Auf dem Weg zur Haltestelle checkt Sumeja ihr Handy. Der Sperrbildschirm zeigt eine Braut im funkelnden Kleid. Es ist kurz nach sieben. Der Weg zur Schule ist lang, aber ihre Eltern wollten, dass sie auf das entfernte Gymnasium geht, damit sie nicht mit den falschen Jungs zu tun hat. „Weißt du, so Verrückte, die schon kiffen.“. Ihre Augen fixieren eine Freundin, die die gleichen schwarzen Sneaker trägt. „Partnerlook“, lacht sie. 

Männer ohne Ehre

Als Sumeja auf das Gymnasium kam, stand sie plötzlich in drei Fächern auf einer Fünf. Der enttäuschte Blick des Vaters bleibt ihr im Gedächtnis. Sie fängt an, zu einer kostenlosen Nachhilfe zu gehen. Sumeja ist es wichtig, alles zu lernen, was man so braucht im Leben. Sie möchte nicht am Ende die Dumme sein, sagt sie. Außerdem könne sie kein Geld von einem Mann nehmen, der sie morgen verlassen könnte. „Heutzutage haben die Männer keine Ehre mehr“, stellt sie fest. Deshalb sei es wichtig, einen Beruf zu erlernen. So wie ihre Schwester, die eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin macht. Sie selbst wäre lieber die Ärztin. Oder Managerin. Oder was mit Politik. Aber erstmal den Abschluss schaffen, lacht sie.

Nach der sechsten Stunde trifft sich Sumeja mit Merve und Amina im U-Bahnhof. Merwe hat Energy-Drinks für alle bei Rewe eingekauft. Sie nimmt einen Schluck und beißt in eine 250 Gramm Tafel Schokolade wie in einen Riegel, ohne das Muster der Rippen zu beachten. Merwe sollte jetzt eigentlich schon in der Neunten sein. Sie nennt ihre Freundinnen Bro und rappt die ganze Zeit einen Vierzeiler, dessen Ende sie vergessen hat: „Wer sagt, das Leben wäre einfach? / Viel zu viele Pläne sind gescheitert/ Scheißegal, ich gehe immer weiter/ Augen zu- Hä- Wie geht das?“ 

Daneben sitzt Amina. Sie balanciert ihr Handy im Selfie-Modus zwischen den Knien, während sie das pinke Kopftuch mit einer Sicherheitsnadel am Hals fixiert. „Oha so selbstverliebt!“´, schreit Merve. Amina zieht die perfekt gemalte Augenbraue hoch. Sie ist die Einzige in der Gruppe, die sich schon so richtig schminkt. Viele Jungs schreiben Amina auf Whatsapp. Das funktioniert so: Die Jungs heißen Neukölln-Mert oder DER Enzo oder dieser Typ aus’m Center. Sie suchen die Mädchen auf Instagram, dann schreiben sie. Je nachdem, wie geschickt die Jungs sich dabei anstellen, entscheiden die Freundinnen, ob der Typ ein Hund, Lügner und dumm im Kopf oder doch voll süß, korrekt und übelst hübsch ist. Dann sendet man sich Snaps und kommentiert die Insta-Story mit Herzen. 

Merve hat ein Junge sogar mal von der Schule abgeholt.  Aber das ging nur, weil sie keinen großen Bruder hat. Es soll sogar Mädchen geben, die die Jungs umarmen. „Aber ich bin nicht so eine.“ beteuert Amina. Merve überkommt ein Lachen, das sie fast vor die Bahn stürzt. „Wir schreiben ja nur mit denen.“, sagt Sumeja ernst. „Aber manche Mädchen haben Beziehungen, die man erst mit Zwanzig haben sollte“. Sie und ihre Freundinnen brechen immer rechtzeitig den Kontakt ab. 

Sie habe eigentlich keine beste Freundin, erzählt Sumeja auf dem Heimweg. Mit Merve und Amina trifft sie sich ja nur und macht Späße. „Ich bin gerne kindisch, weil ich nicht erwachsen sein will.“, sagt sie ernst. Wenn man älter wird, wird man plötzlich von jedem wahrgenommen. Viele in der Familie fangen an, über die kleinsten Fehler zu richten. Auch mit ihrer Cousine war das so. “Früher konnte ich mit ihr über alles reden”, seufzt Sumeja. Dann hat der Vater der Cousine eine neue Frau geheiratet, eine Deutsche. Seitdem spricht die Cousine kaum mehr Albanisch. Sumeja ist das egal. Aber die Tante sagt, sie habe vergessen, dass sie gar keine Deutsche ist. Das macht Sumeja wütend. Auch, als ihre Schwester mit 16 einen Freund hatte, war das so. „Aber ich habe aus ihren Fehlern gelernt.“, sagt Sumeja. Sie trifft sich lieber nicht mit dem Jungen, der ihr die ganze Zeit auf Whatsapp schreibt. 

Auch viele Lehrer in der Schule nehmen Sumeja anders war, seit sie älter geworden ist. „Sie fragen einen jetzt voll oft über die Herkunft und so.“, sagt sie. Über dem Eingang der Schule wurde ein Banner gespannt: „Schule gegen Rassismus – Schule mit Courage“ steht da in weißen, fetten Buchstaben. „Ich schwöre, die haben das gar nicht verdient“, sagt Sumeja.

Als Sumeja noch ganz neu an der Schule war, machte die Klasse einen Ausflug nach Pankow. Im Bus musterten sie zwei Mädchen und flüsterten. An einem anderen Morgen, als Sumeja mit ihrem dunkelhäutigen Klassenkameraden die U-Bahntreppe hochkam, hat ein Mann sie angebrüllt, dass sie zurück in ihr Land gehen sollen. „Ich dachte erstmal, vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Vielleicht ist mir Müll runtergefallen oder so“. 

Sumeja fragte sich noch Wochen später, was der Mann eigentlich von ihr wollte. Sie vergräbt ihre Hände in den Ärmeln der langen Strickjacke, während sie erzählt. Schließlich ballt sie die Fäuste. Es sei dann voll oft passiert, platzt es aus ihr raus. Dass Leute sie eklig angucken, dass Andere denken, sie könne kein Deutsch. In der Schule, als die Sportlehrerin ihr sagt, sie sei ganz anders, seitdem sie ein Kopftuch trage. Auf der Straße in Pankow und auch im Wedding. „Man sieht es auch in den Nachrichten“, sagt Sumeja. In der Grundschule waren alle noch nett zu ihr. „Ich schwöre, ohne Kopftuch sah ich aus wie eine Deutsche!“ sagt sie und reißt die Augen auf. 

Frei fühlt sich Sumeja, wenn sie mit ihrer Schwester am Ku´damm shoppen geht. „Da sind nur Touristen, die sehen uns alle gleich“. Und wenn sie mit den deutschen Studenten im Bildungszentrum lernt. Hier fühlt sich Sumeja Zuhause, weil sie alle normal behandeln.

Nirgendwo zuhause 

Sumeja malt eine Skala in die Luft. „Ein Drittel der Deutschen ist gegen uns, ein Drittel ist für uns und ein Drittel ist neutral.“ Aber jetzt würden die Neutralen immer weniger.  Die gingen zu beiden Seiten weg. Ihre Hände formen zwei sich abstoßende Fäuste. Sumejas Eltern machen sich oft Sorgen, dass sie jemand auf dem Schulweg angreift. Sie lacht und schüttelt den Kopf. Aber manchmal, da stellt sie sich eine Gruppe Menschen vor, die laut brüllt, dass sie jetzt schon zurück muss. Dann bekommt sie Angst, weil sie das allein ja gar nicht schafft. Aber langfristig will Sumeja nicht in Deutschland leben. “Die meisten wollen eh, dass ich gehe.”, sagt sie. „Ich habe mir immer vorgestellt, dass ich später Präsidentin von Mazedonien werde und wir es verändern, dann könnten wir wieder zurück. Meine ganze Familie, das fände ich echt schön.“ 

Sumeja legt die Handflächen über der Brust aneinander, wenn sie über Mazedonien spricht.  Eigentlich ist es da langweilig, und alle wollen weg. Die Familie fährt nur noch ein paar Tage im Sommer hin. Wenn sie zurück aus dem Urlaub sind, vermisst Sumeja nur das schöne Haus, das ihre Eltern dort gebaut haben. Trotzdem nennt sie diesen Ort Heimat. Die Nachbarn dort nennen sie eine Deutsche, weil ihr so oft ein Wort auf Albanisch nicht einfällt.

 

*Name von der Redaktion geändert 

Dieser Artikel ist in der 250. Jubiläumsausgabe der UnAufgefordert erschienen. Hier ist die Ausgabe online zu lesen!