Elite, Kulturträger*innen, Gutsbesitzer*innen, Kolonisten*innen: Die Deutschbalt*innen haben Estland und Lettland über 700 Jahre lang kulturell und wirtschaftlich geprägt, doch ihr Verhältnis war oft angespannt. Der Krieg in der Ukraine eröffnet das Potenzial für engere Verbindungen. Was sagt die Geschichte der Deutschbalt*innen über die deutsch-lettischen und deutsch-estnischen Beziehungen?

Die Geschichte der Deutschbalt*innen begann im späten 12. Jahrhundert, als sich die ersten Deutschen im Gebiet des heutigen Lettlands und Estlands mit der Mission ansiedelten, lokale pagane Religionen zu verdrängen. Während diese Gruppe dem Rittertum angehörte, kamen bald Deutsche aus anderen, vor allem oberen Schichten – Bürgertum, Adel, Priestertum – ins Baltikum. Die deutsche Oberschicht machte insgesamt zehn Prozent der gesamten Bevölkerung des Landes aus. Ihre Nachfahren bilden die deutschsprachige Minderheit der Deutschbalt*innen.

Waren Deutschbalt*innen Kolonisten?

Deutschbalt*innen machten Lett*innen und Est*innen mit der deutschen und westeuropäischen Kultur und Wissenschaft vertraut. Dabei handelte es sich um einen jahrhundertelangen Prozess. Zahlreiche baltische Städte wurden Mitglieder der Hanse und entwickelten ihr eigenes Recht mit dem deutschen Recht als Vorbild. Die Grundidee der Reformation, dass das einfache Volk das Wort Gottes in eigener Sprache lesen können sollte, bildete die Grundlage für estnische und lettische Schriftsprachen. Anfang des 19. Jahrhunderts entstand die deutschsprachige Universität Dorpat, eine der erfolgreichsten Universitäten der Region.

Im Bewusstsein der deutschen Elite gab es aber damals noch keinen Platz für die Idee der nationalen Emanzipation von Est*innen und Lett*innen. Die Vermittlung der westeuropäischen Kultur ging Hand in Hand mit der Beschränkung der lokalen Versuche einer politischen Selbstständigkeit. Der lettische Historiker Ilgvars Misāns verweist darauf, dass sich die Geschichte des Baltikums aus einer kolonialen Perspektive betrachten lässt. Als koloniales Kennzeichen der deutschbaltischen Beziehungen nennt er die Tatsache, dass Deutschbalt*innen eine ethnische Minderheit mit eigener Sprache waren, die die lokale Bevölkerung mit einem niedrigeren sozialen und materiellen Status zwang, für sie zu arbeiten. Selbst die Elite bezeichnete das Baltikum als die älteste deutsche Kolonie im 19. Jahrhundert – damals noch ein Grund zum Stolz.

Der Weg zur Unabhängigkeit

Mitte des 19. Jahrhunderts kam die Epoche des nationalen Erwachens für Lett*innen und Est*innen. Die Kulmination der Spannung zwischen Deutschbalt*innen, Lett*innen und Est*innen fand im Jahr 1905 auf der Welle der Revolution in Russland statt. Die lettischen und estnischen Bauer*innen und Arbeiter*innen protestierten gegen schlechte Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und Privilegien der Deutschbalt*innen. Die Unzufriedenheit eskalierte in Gewalt gegen die baltischen Grundeigentümer: Schlösser und Gutshäuser wurden zerstört und viele Deutschbalt*innen ermordet.

Die deutsche Elite und die Balt*innen hatten unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft des Baltikums. Dieser Unterschied kam während des Ersten Weltkriegs ans Licht, nachdem die deutschen Truppen 1918 alle Ostprovinzen Russlands besetzten, darunter auch das heutige Gebiet Estlands und Lettlands. Viele Deutschbalt*innen unterstützten die deutsche Besatzungspolitik. Sie riefen sogar zur Gründung des sogenannten Vereinigten Baltischen Herzogtums unter der deutschen Herrschaft auf. Politische Hoffnungen der Deutschbalt*innen standen im Gegensatz zum Willen der lettischen und estnischen Völker mit emanzipatorischen Aspirationen, die Anfang 1918 die Unabhängigkeit Lettlands und Estlands proklamierten.

Die Niederlage Deutschlands schwächte die Position der Deutschbalt*innen. Lett*innen und Est*innen verabschiedeten die Enteignung des Großgrundbesitzes im Lande, eine Reform, die sich vor allem auf die Deutschbalt*innen auswirkte. Beide baltischen Staaten führten neue Gesetze ein, die Schutz der Minderheitenrechte und kulturelle Autonomie für Minderheiten garantieren sollen. Wichtig zu betonen ist dabei die Rolle der Abgeordneten der deutschbaltischen Parteien, auch wenn die Deutschbalt*innen im Allgemeinen die führende Position im Land verloren.

Ende der gemeinsamen Geschichte

Am 6. Oktober 1939 verkündete Hitler in seiner Rede eine Umsiedlung deutscher Volksgruppen ins Deutsche Reich. Angesichts der Gefahr einer erneuten Bolschewisierung des Baltikums entschieden sich die Deutschbalt*innen dem Befehl zu folgen. Die Hauptumsiedlung umfasste circa 65000 Deutschbalt*innen. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Lettland und Estland fanden noch Nachumsiedlungen für etwa 17000 Deutschbalt*innen statt. So endete ihre Geschichte im Baltikum.

Lettische und estnische Intellektuelle und die Staatsführung sahen die Umsiedlung von Deutschbalt*innen als eine gute Gelegenheit für das nationale Interesse. Manche politischen Parteien waren bekannt für ihre antideutsche Einstellung. In Lettland versuchte man die Spuren der Deutschbalt*innen zu verwischen, indem man deutsche Inschriften auf Gräbern und in Kirchen entfernte. Der damalige Staatspräsident Lettlands Kārlis Ulmanis kommentierte angeblich die Umsiedlung der Deutschbalt*innen mit Auf Nimmerwiedersehen“.

Gewinne und Verluste

Die Beziehungen zwischen Deutschbalt*innen, Lett*innen und Est*innen waren problematisch: Die deutsche Elite hatte wenig Verständnis für die politische Subjektivität der Balt*innen, die Lett*innen und Est*innen hatten im Gegenzug keine Hemmungen, ihre Unzufriedenheit gegenüber ihren Arbeitgeber*innen auf brutale Art und Weise zu zeigen. Die gemeinsame Geschichte dieser Gruppen kennt aber auch lange Perioden der gegenseitigen Neutralität und sogar Affinität – gegenüber Freund*innen, Nachbar*innen, Familienmitglieder*innen, die seit Jahren im Baltikum lebten, und die 1939 plötzlich verschwanden.

Und wie die Einstellungen zu den Deutschbalt*innen heute aussehen? Der lettische Forscher der deutschbaltischen Literatur und Kultur Pauls Daija spricht von drei Vorstellungsvarianten von den Deutschbalt*innen in der heutigen Gesellschaft Lettlands. In der ersten sehen die Lett*innen sie als historische Feinde, bis hin zu einer Dämonisierung der Deutschbalt*innen. Die zweite präsentiert einen nahezu sentimentalen Blick auf die Deutschbalt*innen als Kulturträger*innen über die Jahre. Die dritte und wahrscheinlich die häufigste, so Daija, ist Gleichgültigkeit gegenüber einem Stück Geschichte, das fremd für den heutigen Menschen ist. Die alten Herrenhäuser, Ruinen der Ordensburgen und Friedhöfe sind aber immer noch da. Man muss nur nach oben schauen.


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