Ob mit Fähre oder Flugzeug, ob authentisch oder touristisch, heute wie vor 25 Jahren fasziniert das Land Israel unsere Autor*innen. Der zweite Teil unserer Kolumne Nabelschau: Eine Zeitreise zwischen 1992 und 2017 in Briefform. Ein UnAuf- Autor schreibt 1992 aus Isreal, 25 später antworten wir.

 

„Endlich macht sich das Spesenkonto für UnAuf bezahlt! Der Spreebeobachter meldet sich mit einem Brief aus Israel

Aus Rhodos kommend schiffte sich der Spreebeobachter ein auf die „Silver Palome“ über Zypern nach Haifa, Israel. Doch noch bevor das Schiff überhaupt den sturmgepeitschten Hafen von Rhodos erreicht, beginnt ein wieselflinker, stechäugiger Beamter, der sich als „Security control“ vorstellt, die Pässe der wartenden Passagiere einzusammeln. Ein unangenehmes Gefühl ist es jederzeit, besonders aber im Ausland, seinen Pass in den Händen Fremder zu wissen. Zu deutlich ist der klassische Satz des Volkspolizisten in Erinnerung: „Ihre Anwesenheit ist noch kein Beweis ihrer Existenz.“ Aber alles geht glatt. Blitzschnell prasseln die Fragen des Herrn Control auf den Spreebeobachter wie danach auf jeden anderen Reisewütigen auch: „Fahren Sie das erste Mal nach Israel? Gehört all das Gepäck Ihnen? Was ist Ihr Beruf? Was studieren Sie?“ Mein  Versuch, den Beamten die Feinheiten der Humanontogenese zu erklären, wird jedoch abgewürgt. „Wie lange waren Sie in Griechenland? Wie kamen Sie nach Griechenland? Wie lange wollen Sie in Israel bleiben? Wie wollen Sie dann weiterreisen? Haben Sie Waffen oder Messer dabei?“ Auch in diesem Moment, als ich voller Stolz mein Taschenmesser vorführen will, ist das Interesse enttäuschend! „Nehmen Sie nichts von Fremden mit, keine Tasche, kein Paket, darin könnte eine Bombe sein!“ Mit diesen Worten bekomme ich meine staatsbürgerlichen Rechte in Form des Passes zurück und die gleichen Fragen prasseln auf ihr nächstes Opfer.

Nach sechsstündigem Aufenthalt auf Zypern kommt die Weltgeschichte an Bord. Und zwar in Gestalt von russischen, besser sowjetischen Immigranten, denn noch hat die Sowjetunion vier Tage Bestand. Der vorher noch halbleere Passagierraum ist überfüllt, die Luft zum Schneiden. Eine leichte Besserung tritt ein, als nach 10 Minuten fahrt 50% der Passagiere Toiletten und die Reling aufsuchen, im dem zu frönen, was sie Seekrankheit nennen.

Jedoch auf eines lächelnden Gottes Geheiß bleibt der Spreebeobachter verschont und am nächsten Morgen betritt er ohne theatralische Gesten als da wären: Boden küssen, Freunde umarmen, mit Kleingeld um sich werfen…, wie gesagt, ohne diese Gesten das Heilige Land – Israel, den Judenstaat, kleiner noch als die DDR, das Land von Jarmulke und Mazze; Israel, das sind vier Millionen Einwohner und fünf Millionen Autos, zerrissen, auseinandertriftend und doch ein einziger großer Kibbuz.

Kibbuz, das ist die einzige Art von Sozialismus, die ohne Erschießungskommandos und Gulags auskam und kommt. Sozialismus, den man verlassen kann, wann man will, Sozialismus, der sich sogar rechnet. Als 1904 die ersten europäischen Juden nach Palästina kamen, hatten sie neben der Heimkehr ins gelobte Land noch verschiedene sozialistische und kommunistische Ideen im Kopf. Die sie allerdings verwirklichen wollten und nicht im Blut ertränken, wie die Terroristengruppe um Lenin.

Unterstützt von zionistischen Organisationen entstanden freiwillige LPGen, gleiche Bezahlung für alle, freie Liebe, Rotation, jeder Kibbuznik mußte jede Arbeit mitmachen, Kinder wachsen getrennt von den Eltern in Kindergärten auf. Das Modell funktionierte, auch wenn viele der Anfangsdogmen inzwischen verändert wurden. Aus dieser Zeit stammt das arabische Sprichwort: „Wo Bäume in der Wüste sind, da sind Juden.“ Und auch die Tragik der Palästinenser nahm ihren Anfang. Für ein Spottgeld konnten die Zionisten von den feudalistischen (arabischen) Landbesitzern riesige Gebiete erwerben. Der Zorn der palästinensischen Tagelöhner richtete sich gegen die florierenden Kibbuzim. Terror, Tod auf beiden Seiten!

Es entstand eine jüdische Terrororganisation – eigentlich mehrere! Sie kämpften mit Bomben und Überfällen sowohl gegen die Palästinenser, als auch gegen die englische Mandatsmacht. Der englische Steckbrief des Terroristen Shamir, heute israelischer Premier, existiert noch! Er hatte einen Flügel eines von Engländern bewohnten Hotels gesprengt – 200 Tote!

In einem günstigen Moment riefen die inzwischen durch europäische Flüchtlinge legitimierten Zionisten den Staat Israel aus. Gedeckt durch einen UNO-Beschluß entstand in Feuer und Blut dieser Staat. Die Palästinenser hatten das Nachsehen. Gerade durch diese Gründungsgeschichte wirkt der Protest gegen den PLO-Terror unglaubhaft. Ich, der Spreebeobachter, sage: Terror ist nicht gut. Ich hoffe, alle Parteien halten sich an meine Worte, damit endlich Frieden einkehrt.

Im jüdischen Teil der Jerusalemer Altstadt gibt es einen T-Shirt-Laden. Ein Motiv will ich kurz beschreiben: An einem Lagerfeuer sitzt Shamir mit einem Indianerhäuptling. Der Indianer sagt zu Shamir: „Ich werde dir erklären, wie man das macht, Land gegen Frieden eintauschen.“ Auch das wirft ein Schlaglicht auf die Tragödie Israels. Mag sein, daß Israel ein Existenzrecht besitzt, wer auch immer dieses verleihen mag. aber die reale Existenz kommt von Israels Stärke. Genau, wie auch die Schwäche der Palästinenser der Grund für die Nichtexistenz von Palästina ist. Ein Verrückter sagte mir: „Mit Existenzrecht kann jeder leben. Aber ohne, wie man sich da durchschlägt, das ist spannend!“ „

Von F., UnAuf Nr. 36, 30. April 1992

 

25 Jahre später antwortet unsere Autorin Mascha:

 

„Lieber Spreebeobachter,

dein Reisebericht hat mich wirklich fasziniert. Ich habe sofort gegoogelt, ob es immer noch möglich ist, mit dem Schiff von Griechenland nach Israel zu fahren. Tatsächlich starten weiterhin mehrmals in der Woche Boote von Zypern aus, schippern erstaunlich nahe an der Küste Libanons vorbei, um am  Hafen von Haifa anzulegen. Auch die akribischen Kontrollen bei der Einreise und die satirisch bedruckten T-Shirts in der Jerusalemer Altstadt gibt es noch. Waren es zu Deiner Zeit noch sowjetische Migranten, so machen heute russische Juden mit zwanzig Prozent die größte Minderheit in Israel
aus. Und Dein Wunsch nach Frieden zwischen Palästina und Israel ist nach weiteren Intifadas und drei Kriegen in Gaza aktueller denn je.<

Also alles beim Alten im gelobten Land? Nicht ganz, doch die Differenz zu meiner Reise im Jahr 2016* lese ich eher zwischen den Zeilen deines Briefes. So ist sowohl die zionistische als auch die sozialistische Idee mittlerweile überschattet von realpolitischen Szenarien:  Zwar kann man an Tel Avivs Promenade noch bis an die Nachbarstadt „Herzlia“ (nach Theodor  Herzl, Begründer  des modernen  Zionismus) spazieren, und wir ließen uns von einem Kibbuzmitglied  in  die Geheimnisse der kollektiven Kirschblütenernte einweihen; aber auf der Tel Aviver Promenade begegnet einem eben auch das heterogene Gesichts Israels, das längst nicht mehr nur  jüdisch ist, und am Rande des Kirschblütenfelds fahren UN- Panzer in Richtung der syrischen Grenze.  

Eine Sache aber ist geblieben: die aufrüttelnde, packende Spannung, die von diesem Stückchen Erde ausgeht. So vermerkte ich in meinem Reisetagebuch vom 1. April:

(…)  Das  alles geht mir durch den Kopf, während wir eigentlich nur in der Abendsonne sitzen und plaudern, aber seit wir hier sind, fügt sich jede Begegnung, jedes Bild und jedes Geräusch in ein großes Ganzes ein, und dieses Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. In diesem Land fokussiert sich das, was die Welt so umtreibt: Flucht  und Vertreibung,  Vergangenheit und  Zukunft, Freiheit und Sicherheit,  Religion und Atheismus, Mangel und Überfluss, Terror, Klima, Grenzen, Nationalitäten, Besitz. Wer hier eine  Frage  stellt, die bei uns lustlos in Talkshows debattiert wird,  muss mit einer klaren, radikalen Antwort rechnen, denn oft fühlen sich die Befragten mit nichts anderem als ihrem eigenen Existenzrecht  konfrontiert.

In diesem Sinne, lieber Spreebeobachter, verbleibe ich mit herzlichen Grüßen aus der UnAuf Redaktion.

Deine Mascha“

 

*Anmerkung der Redaktion: Die Autorin war im Frühjahr 2016 für drei Wochen in Israel und Palästina couchsurfen.