Unser Autor beklagt einen Verlust an Qualität und Meinungsvielfalt im gegenwärtigen Online-Journalismus. Die Grund dafür ist der einseitige Fokus auf die Bedürfnisse der Leser*innen im Zuge ihrer digitalen Quantifizierung. Ein Kommentar.

Viel wurde schon diskutiert über den Qualitätsverfall des Onlinejournalismus. Und tatsächlich: Wer sich heute die Internetauftritte der großen Tages- und Wochenzeitungen anschaut, ist mitunter erschreckt von so wenig geistreichem Content. Dominiert doch eine Mischung aus abgeschriebenen dpa Meldungen, polarisierenden Meinungsbeiträgen und reißerischen Überschriften das Feld der Medienöffentlichkeit. Von den Kapitulationserklärungen des Influencerjournalismus namentlich Bento, Zett und Co., soll an dieser Stelle erst gar nicht gesprochen werden.

Das Phänomen beschränkt sich nicht auf ein politisches Lager, sondern lässt sich nahezu überall finden. Von Zeit ONLINE und Süddeutsche Zeitung bis hin zu FAZ, Welt und NZZ. Die Qualität der Beiträge ist zum großen Teil ungenügend. Meinungsgeladen und zumeist oberflächlich stürzen sich die publizistischen Aushängeschilder der großen Redaktionen auf die potenziellen Leser*innen.

Fragt man nach den Gründen, wird einem schnell und wie aus der Pistole geschossen das Argument der prekären Arbeitsverhältnisse im Digitaljournalismus entgegengeschleudert. Zuletzt während der Betrachtung des Niedergangs vieler Zeitungen der DuMont Verlagsgruppe. In Zeiten geringer Margen des Onlinemarketings müssen mit immer weniger Aufwand immer größere Klickzahlen generiert werden. Viele Zeitungen versuchen daher inzwischen dieser Dynamik zu entfliehen und den Konsumierenden mit dem rigorosen Verschließen von Premium Content hinter einer Paywall, vorsichtig nahezubringen, dass es wieder an der Zeit wäre für Journalismus zu bezahlen.

Wie steht es zwischen dem Journalismus und seinen Leser*innen?

Viel Richtiges entspringt dieser ökonomischen Betrachtungsweise der journalistischen
Produktionsverhältnisse in den großen Verlagshäusern der Bundesrepublik. Ein Faktor wird bei dieser Schlussfolgerung aber außer Acht gelassen: das Verhältnis zwischen Leser*innen und Journalist*innen.

Wer sich heute über die vielen polarisierenden Meinungsbeiträgen, beispielsweise eines Jan Fleischhauers erbost, und seinen Furor gerne an die Redaktion weitergeben möchte, braucht dafür lediglich ein paar Sekunden. Die Kommentarsektion macht es möglich. Macht eine Journalist*in einen Rechtschreibfehler im Fließtext, so kann sie sicher sein, dass ihr der Faux pax nach wenigen Minuten mitgeteilt wird. Die Macht des Lesenden geht aber noch weiter. Er bestimmt heute die Artikel von Morgen.

Um diesen Punkt zu verstehen, muss zurückgeblickt werden in
die ach so goldene Zeit des analogen Journalismus. Auch hier wurde Marktforschung betrieben, schließlich wollte man zumindest ungefähr wissen, wer die eigene Zeitung liest. Das Ausmaß dieser Analysen lässt sich aber nicht im Ansatz vergleichen mit den Datenströmen, die eine Komplettanalyse der Konsumenten*innen für alle Onlinegazetten heute möglich macht.

Der Journalismus und die gläsernen Leser*innen

Es beginnt bei den Klickzahlen, geht weiter über die Kommentarspalte und endet bei den für viele Nutzer*innen rätselhaften Cookies, die das anlegen von detaillierten Leserprofilen ermöglichen. Diese dienen nicht nur als Argumentationswerkzeug für harte Verkaufsgespräche mit möglichen Werbekunden, sondern prägen auch, welche Artikel geschrieben werden. Schließlich lässt sich der Erfolg von content heute sehr schnell nachweisen und die Leser*innen sind zu einem guten Bekannten geworden.

Die Folgen für das Produkt Journalismus sind verheerend. Die Welt, die einem Zeitungen verkaufen wollen wird hermetischer, eindimensionaler, langweiliger. Besonders schlimm wird es bei Zeitungen, die sich um dieselbe Kundschaft streiten. Die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit sind online nahezu, abgesehen vom Regionalteil, identisch. Diese Dynamik bzw. dieser Stillstand lässt sich auch im rechtskonservativen bis hin zum konservativ liberalen Spektrum beobachten.

Denn zu der Sichtbarkeit der Produktempfänger*innen kommt noch ein entscheidender Machtgewinn des Konsumenten hinzu: Es ist heute kostenlos und ohne weiteres möglich, innerhalb von 10 Minuten alle relevanten Onlinemedien nach interessanten Artikeln zu durchsuchen. Das war früher, bis auf das Schmökern am Zeitungskiosk, nicht möglich und soll wenn es nach den Verleger*innen geht, auch heute verhindert werden.

Die Zeit des Anbiederungs-Journalismus?

Die Sucht nach Sichtbarkeit und das schamfreie Anbiedern an den möglichen Kunden sind die Folge. Der Lesende muss abgeholt werden und zwar dort, wo er schon ist. In den guten alten Tagen des Journalismus war die einzelne Leser*in nicht wichtig. Für sie wurde nicht geschrieben, denn man kannte sie nicht. Die wenigen Leserbriefe die in der Redaktion eintrudelten, interessierten wenig.

Diese Ignoranz gegenüber dem Konsumenten wird auch offen zugegeben. So sagt Michael Marti, schweizer Journalist, sogenannter Digitalexperte und Mitglied der Chefredaktion des Schweizer Tagesanzeigers, in einem Interview: „Wen von uns Schreibern interessierte es in der Print-Epoche wirklich, wie viele Leserinnen und Leser einen Zeitungsartikel lasen? Wen von uns interessierte es, ob sie bis zum letzten Satz dranblieben – oder schon nach dem Lead absprangen? Wen hatte es zu kümmern, ob die Leser zufrieden sind und sich kompetent informiert fühlten nach der Lektüre eines Beitrages? Ich würde mal sagen: niemanden.”

Was Marti als Vorwurf formuliert, möchte man sich bei der Betrachtung aktueller journalistischer Angebote möglichst schnell zurückwünschen. Denn ist es nicht die Unabhängigkeit von Journalist*innen, die hier beklagt wird? Früher war das Angebot in den Zeitungen dank der akzeptierten Ignoranz von wesentlich größerer Ambivalenz. Die politische Linie ließ sich oft nicht durch alle Texte hindurch verfolgen. Im Gegenteil. Auf ein konservatives politisches Pamphlet konnte ein paar Seiten weiter eine Jubelorgie auf Marxistische Literatur folgen.

Nun ließe sich auch hier wieder einwenden, dass man ja wieder zahlen könnte für den Journalismus. So wäre man doch in der Lage zurück in eine Zeit zu reisen, in der nicht vorher feststand, was in der Zeitung von Morgen zu lesen sein würde. Dafür ist es jedoch leider zu spät, denn die Macht des Lesenden ist auf das Printprodukt übergegangen. Auch die hochwertig gedruckten Zeitungen am Kiosk, sind auf den digitalen Marktforschungsmechanismen aufgebaut. Zeitungen sind heute überwiegend durchoptimierte Lifestyleprodukte, die genau auf uns zugeschnitten sind, uns entsprechen und uns genau das geben, was wir wollen – genau das ist das Problem.


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