Enttäuschte Geister und verzweifelte Doktoren: Die „Handliche Bibliothek der Romantik“ im Secession Verlag öffnet mit einer Auswahl deutscher Gespenstergeschichten. Jede Erzählung ist eine Heimsuchung, eine Stimme, die nicht verstummen kann.
Es gibt eigentlich keine rechte Entsprechung des englischen Wortes „haunt“ im Deutschen. This text itself is haunted, würde ich vielleicht sagen, kann ich aber nicht, weil es in Deutschland nicht transitiv spukt. Die Gespenster aus Deutschland brauchen einen Ort, an dem sie umgehen können: ein verlassenes Haus, eine Ruine, ein dunkles Gewölbe. Wir sagen es spukt – und überlassen es anderen darüber nachzudenken, was dieses es eigentlich ist.
Jedenfalls spukt es, überall und schon ziemlich lange. Vorstellungen von Wiedergängern, von freundlichen und weniger freundlichen Untoten, die ganz spielerisch die Grenze zwischen dieser und der anderen Welt überschreiten, tauchen in den meisten kulturellen Systemen auf, zuweilen gerade dort, wo man es am wenigsten erwartet. Das hat seinen ganz eigenen unheimlichen Charakter.
Als Reformation und Aufklärung einiges daransetzten, der natürlichen Welt ihre Geister auszutreiben, wurde der Glaube an Gespenster, an unglückliche Seelen, die noch an das Diesseitige gebunden waren, etwas weniger gesellschaftsfähig. Damit verbarg sich auch die subversive Kraft dieser Erzählungen. Denn die Stimmen der Toten erreichen uns schließlich nur auf einem Weg: als Heimsuchung. Doch scheint es ganz so, als sei gerade der zeitgenössische Diskurs wieder von dieser Heimsuchung befallen.
Es spuken wieder Gespenster
Es spukt wieder, etwa in Jacques Derridas geschichtsphilosophischer Abschweifung Marx’ Gespenster, oder in den Arbeiten der US-amerikanischen Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing, die in den Ruinen unseres von dreihundert Jahren Naturbeherrschung und Kapitalismus zerstörten Planeten die Gespenster des Anthropozäns ausmachen konnte.
Doch zunächst fanden die Gespenster eine andere Form. In der literarischen Romantik entstanden die heute bekannten Tropen der Gespenstergeschichte: die etwas volkstümlichen Schauermärchen von Wilhelm Hauff oder Ludwig Tieck ebenso wie die komplexen, psychologischen Erzählungen und Romane von E.T.A. Hoffmann.
Nun sind Erzählungen wie Tiecks Klausenburg, De la Motte Fouqués Köhlerfamilie oder das Hauff’sche Gespensterschiff vielleicht nicht die prominentesten Werke der deutschsprachigen Romantik, und so war es eine gewisse Zeit lang schwierig, vernünftige Ausgaben dieser Schauergeschichten zu bekommen. Warum das eigentlich so ist, warum sich Liebe verkauft, aber Gespenster nicht, weiß ich nicht genau; muss ich aber auch gar nicht wissen, denn die Diktatur der Reclamhefte und billigen Nachdrucke hat ein Ende gefunden.
Mit diesem sehr schönen, kleinen Buch eröffnet Herausgeber Harald Neumeyer die neue Handliche Bibliothek der Romantik im Secession Verlag – ausgerechnet mit den Gespenstern! Sechs ziemlich klassische Gespenstergeschichten der deutschen Romantik sind hier zu einem Lesebuch versammelt, das außer einer kurzen Einleitung des Herausgebers keine Einordnungen und Kommentierungen vornimmt. Wahrscheinlich sprechen die Texte für sich. Was sprechen sie denn?
Der Spuk der Aufklärung
Zunächst sprechen diese Texte vor allem über sich selbst. Die Feinheit des intertextuellen Netzes, das hier die Gespenstergeschichten untereinander, aber auch mit Texten anderer Genres und Zeiten verwebt, ist überraschend. Wenn in Hoffmanns Fragment aus dem Leben dreier Freunde die Haushälterin Anne trüb die verlassene Wohnung durchstreift, dann tut sie das als „kleines gespenstisches Wesen“ und „seufzend […] wie das Bettelweib von Lokarno“, wenn von Gespenstern berichtet wird, gehören diese Erscheinungen „doch recht eigentlich in Wagners ‚Gespensterbuch‘“ und trotz seiner „entsetzlichen Aufklärung“ wird einer der drei Freunde schließlich zum „Geisterseher“.
Aufgeklärte Wissenschaftler wie der Göttinger Professor Georg Christoph Lichtenberg oder der Hallenser Philosoph Georg Friedrich Meier beschäftigen sich mit den, wie sie glaubten, natürlichen Ursachen der Spukerscheinungen. Ihnen taten es im ausgehenden 18. Jahrhundert zahlreiche Sammlungen von Gespenstergeschichten gleich, immer in der Absicht, die Gespenster zu entzaubern, zu ent-täuschen, wie Harald Neumeyer in seiner Einleitung resümiert. „Die aufgeklärten Wissenschaftler“, so Neumeyer, „schreiben sich ein hehres Ziel auf die Fahnen: Sie möchten den Menschen die diesseitige Welt heimischer machen, indem sie ihnen die Furcht vor Eindringlingen aus dem Jenseits nehmen. Doch die Entzauberung der Welt durchtrennt zugleich die Verbindung zur Tradition, indem sie den Volksglauben und die theologischen Lehrmeinungen von Jahrhunderten zu bloßem Aberglaube erklärt.“
Gespenster überall: The text itself is haunted
Diese Ent-Täuschung spukt auch in den Gespenstergeschichten selbst. Vielleicht erinnert sie an den kolossalen Gewaltakt, mit dem die Aufklärung versuchte, die Welt in ihre eigene Immanenz zu zwingen. Nicht alle Antworten der Geisterseher sind so ironisch wie das, was Hoffmanns drei Freunde im Berliner Gartencafé vor sich hin plaudern. „O mein schönes System!“, seufzt der Doktor in Tiecks Klausenburg, nachdem er den Spuk, der sich vor seinen Augen abspielt, nicht länger leugnen kann.
„Da entsteht nun eine schreckliche Lücke, ein herber Widerspruch mit allen meinen Überzeugungen und Erfahrungen, die ich wahrlich nicht zu versöhnen, oder zu ergänzen weiß. Aber, mein teurer, verständiger Freund, im Namen der Menschheit und bei deren Wohl beschwöre ich Sie, halten Sie ja die ganze Sache geheim, verschweigen Sie gegen jedermann die Geschichte, denn sonst eröffnen wir ja dem Aberglauben Türen und Tore. Der Menschheit und der Wissenschaft wegen müssen wir die seltsame Geschichte vertuschen.“
Vertuschen aber lässt sich nur, was nie zurückkehrt, und in diesen Geschichten kehrt ziemlich viel zurück. Ich erinnere daran: This text itself is haunted, gerade von denjenigen Gespenstern, die hier nicht auftauchen, die noch nicht sichtbar, noch nicht zurückgekehrt sind. In allen diesen Geschichten spukt die Aufklärung (und ihre Opfer), spukt die Entzauberung (und ihre Opfer), spuken Referenzen und Intermedialitäten, die wiederum Gespenster des Textes sind.
„In alter Zeit hatten wir einen frommen schlichten Glauben“, lässt Hoffmann den Schwiegervater sagen, „wir erkannten das Jenseits, aber auch die Blödigkeit unserer Sinne, dann kam die Aufklärung, die alles so klar machte, dass man vor lauter Klarheit nichts sah, und sich am nächsten Baume im Wald die Nase stieß, jetzt soll das Jenseits erfasst werden mit hinübergestreckten Armen von Fleisch und Bein.“
Handliche Bibliothek der Romantik. Band 1: GespensterHerausgegeben von Harald Neumeyer
Secession-Verlag 2019
240 Seiten mit Abbildungen, 24,00€