Nüchternheit versus Ekstase – Irrtum oder Erlösung? Der neue Film von Thomas Vinterberg handelt von den betörenden Versuchungen des Alkohols und einem speziellen Menschenbild. Wurden wir alle mit zu wenig Blutalkohol geboren? Martin und seine Freunde versuchen es herauszufinden.

Der Plot des neuen Films von Thomas Vinterberg – „Der Rausch“ – ist klar aufgebaut: Martin und seine Freunde, Männer mittleren Alters und Lehrer am selben Gymnasium, feiern in einem Restaurant. Feinster Champagner, Wodka und Wein wird aufgetischt. Der Sportlehrer Tommy (Thomas Bo Larsen), der Musikpädagoge Peter (Lars Ranthe) und Schulpsychiater Nikolaj (Magnus Millang) geben sich bereitwillig dem Genuss hin und können auch den zurückhaltenden Geschichtslehrer Martin (Mads Mikkelsen) bald überzeugen, ins feuchte Treiben einzusteigen. Grund genug zur Flucht haben sie alle: Auf ihnen lastet das Gewicht des farblosen Schulalltags schwer, so richtig rund läuft es schon lange bei keinem mehr. Die jugendlichen Söhne von Martin sind chronisch an allem desinteressiert, seine Schüler verlassen schonmal mitten im Unterricht den Raum, wenn ihnen danach ist, während er selbst zu leibhaftiger Hilf- und Sprachlosigkeit gerinnt. In seiner Ehe wird ein gewisser Mindestabstand nicht mehr unterschritten – „Bin ich langweilig?“ – fragt Martin seine Ehefrau in einer stillen Anfangsszene. „Du bist nicht mehr wie früher“, lautet die vielsagende Antwort. What a life.

Den anderen geht es nicht viel besser. Jeder von ihnen hat seine emotionale Problemzone. Und so beschließen die vier, ein Experiment zu starten. Ein konstanter Blutalkoholgehalt von 0,5 Promille soll laut der These eines bekannten norwegischen Psychiater dabei helfen, ein kreativeres, freieres und mutigeres – also ein “richtigeres” – Leben zu führen. Könnte da tatsächlich etwas dran sein – der Mensch als unvollständiges Wesen? Zeigt die Geschichte nicht, dass von Churchill über Roosevelt bis hin zu Hemingway die Abkehr von der Nüchternheit große Taten gebiert? Ist nicht seit Jahrtausenden bekannt, dass Rebensaft den Geist öffnet und befreit? Und so beschließen die vier, ihre Gesundheit nicht länger durch einen zu niedrigen Promillewert zu gefährden und besorgen sich kurzerhand den richtigen Stoff und einen hochwertigen Alkoholtester.

Zuerst scheint an der These tatsächlich etwas dran zu sein. Martin und seine Freunde verwandeln sich – ein bisschen zumindest. Der Alltag verliert an Gewicht. Auf einmal ist da ein wohliger Puffer zwischen Ihnen und dem Frust und alles scheint ihnen etwas, nun ja, leichter von der Hand zu gehen. In Martin erwacht ein bisher unbekannter Elan – mit seinen trockenen Geschichtsstunden scheint es dank neuer Energie und dem richtigen Tröpfchen vorbei zu sein und auch seine Familie bringt er bei Kanutour und Lagerfeuer mit neuem Schwung zusammen. Mads Mikkelsen spielt in diesen Szenen einen Martin, dessen freudige Ungläubigkeit überzeugt. Peter schwört seine Chortruppe in verdunkelter Turnhalle auf die Kraft der eigenen Stimme ein und auch Nikolaj und Tommy kommen munterer durch die Woche. 0,5 Promille – das scheint tatsächlich der Schmierstoff zu sein, der dem Getriebe des Alltags bisher gefehlt hat und der Film setzt diese Erkenntnis mit einigen Pointen teilweise flott in Szene.

In diesem Film geht es also um die Frage, ob es eine Alternative zu Nüchternheit, Beherrschtheit und Rationalität gibt – in einem anderen Bewusstseinszustand. Die Suche nach diesem Bewusstseinszustand inszeniert Tomas Vinterberg als moderne Dionysien, bei denen die vier Lehrer dem Alkohol ausgiebig huldigen. Dionysos – der Sorgenbrecher – das war der griechische Gott der Trauben, der Freude und der Ekstase und die Dionysien waren Festspiele, bei denen der Rausch und die Verwandlung zelebriert wurden. Ein faszinierendes Motiv, das sich auch nach mehr als zweitausend Jahren neu auflegen lässt, wie man sieht. Fünfter Hauptdarsteller ist in Vinterbergs Film der Alkohol, den er in abwechslungsreichen Bildern inszeniert: Verführerisch, geheimnisvoll ist dunkelroter Schimmer im blitzenden Weinglas zu sehen, anregend sprudelt es bunt im Cocktailglas, als weißer Niederschlag fällt Champagnerschaum vom Himmel. Schade, dass man einen Wein nicht streicheln kann – frei nach Tucholsky. Wie in einem farbenfrohen Taumel lassen sich Martin und seine Kumpanen erwärmen, begeistern und fortreißen. What a life, what a night, heißt es dazu im wichtigsten Song des Soundtracks. What a beautiful, beautiful ride. Die Verwandlung – ist sie vollzogen?

Ganz so einfach liegen die Dinge tatsächlich nicht. Dionysos hatte bei den Griechen aus gutem Grund mehr als nur einen Namen. Unter anderem wurde er Anthroporrhaistes genannt und das heißt soviel wie Menschenzerschmetterer. Tatsächlich verlieren Martin und die anderen im bunten Strudel schnell den Boden unter den Füßen. Auf der Suche nach dem wahren Pegel schießen sie über die magische Promillegrenze hinaus, tauchen sichtlich betrunken in der ein oder anderen Lehrerkonferenz auf und brechen schließlich auf heimischer Matratze oder Nachbars Einfahrt zusammen. Martin holt sich nur eine blutende Stirn, Musiklehrer Peter aber nässt sich nächtens vor den Augen seiner kompletten Familie ein, die Ehefrau flüchtet zur Schwester. Die vier beschließen, das Experiment aufgrund von drohendem Alkoholismus und unabsehbarer negativer Folgen abzublasen. Der Ausbruch aus der Realität – er ist gescheitert. An dieser Stelle schließt der Film aber noch nicht ab.

Vinterberg erzählt also nicht nur vom Rausch sondern auch vom Gegenteil – von der harten Konfrontation seiner Figuren mit der Realität, ihrem Schicksal, den eigenen Sehnsüchten und der Herausforderung, das alles auszuhalten und zusammenzubringen. Er liefert dabei so manche großartige Szene und auch die Hauptdarsteller geben eine glaubhafte Performance. Aber wahr ist auch, dass der Film stellenweise nur solide ist. Eine bessere Entwicklung der Hauptdarsteller abseits von Martin/Mads Mikkelsen wäre möglich und sinnvoll gewesen. Darüber hinaus gibt es auch Längen und vereinzelt schrumpfen unglaubwürdige Szenen zu schlichten Elementen im Spannungsbogen. Letztendlich überwiegt bei diesem Film aber der eingängige Plot, der gelungene Soundtrack und besonders Fans von Mads Mikkelsen Schauspielkunst werden voll auf ihre Kosten kommen. Und für die Abschlussszene lohnen sich vorangegangene Längen allemal.

Fazit: Solides Machwerk mit tollem Finale!

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