Das Berliner Ensemble machte in den letzten Jahren immer wieder mit gelungenen Inszenierungen von sich reden. Nun ist ein weiteres Husarenstück geglückt: der findige Intendant Reese hat mit Barrie Kosky einen der einflussreichsten Regisseure unserer Zeit für eine erneute Inszenierung der Dreigroschenoper gewinnen können. Und Kosky legt nun eine Interpretation des Brecht’schen Meisterwerks vor, die ihresgleichen sucht.

Es ist noch immer etwas besonderes, wenn man in diesen Wochen gen Theater schreitet – zu präsent die Zeit, als man von Abenden wie diesen träumte. Artig in der Schlange stehen, Nachweise vorlegen, Bändchen umgehängt bekommen und dann freudestrahlend hinein ins alt-ehrwürdige Theater am Schiffbauerdamm, wo einst der Meister höchstselbst wirkte. Dieser hatte damals mit seiner Dreigroschenoper die ganze Stadt erobert und von dem Erfolg dieses Werkes aus eine unglaubliche Karriere gestartet, die so reich an wertvollen Texten, Dramen und Stücken war, dass der ein oder andere Brecht nicht ungern mit Goethe gleichsetzen würde. Doch es bleibt nicht dabei, dass man sich hier im Theater aufhält, in dem auch die Premiere stattfand – nein, auch damals war das Theater nur zur Hälfte besetzt, wie heute, wo es nicht an Zuschauwilligen mangelt, sondern die Corona-Regelungen diese Halbierung vorgeben. Zufall? Schicksal? Man weiß es nicht.

Eine schlichte, leere Bühne mit genügend Platz für große Schauspielkunst

Doch nun hebt sich der Vorhang für die Dreigroschenoper, die Barrie Kosky hier inszeniert hat. Der ist zwar kein zweiter Goethe, aber – und das ist vielleicht viel wertvoller – der erste Kosky. Denn der Vorhang hebt sich überhaupt nicht, sondern es blickt nur ein Perlenschmuckbekröntes Frauengesicht aus dem Vorhang, der Scheinwerfer richtet sich auf die Dame und man hört jene so berühmte Moritat von Mackie Messer mit einer schaurig schönen und rauchigen Stimme vorgetragen, dass es einem warm den Rücken hinunterläuft. Es ist die bezaubernde Josefin Platt, die hier dafür sorgt, dass das Publikum von der allerersten Sekunde an begeistert ist. Ohne Leierkasten, ohne Zylinder – und trotzdem grandios. 

Josefin Platt © JR Berliner Ensemble

Wenn es nun weitergeht, fällt besonders das Bühnenbild auf. Hier wird ein bühnenfüllendes, schwarzes Rahmensystem aufgefahren, das ähnlich einem Klettergerüst minimalistisch-treffende Kulisse für den Streit Pollys mit ihren Eltern und gar die Hochzeit Pollys mit Mackie Messers ist. Alles hat Anklänge von Katharina Wagners Tristan und Isolde-Inszenierung, als man seinerzeit in Bayreuth ein Treppenlabyrinth realisierte und dort die Liebesduette singen lies. Doch – wie sollte es anders sein – ist das Berliner Treppenlabyrinth intelligenter gemacht. Hier wird es möglich verschiedene Blickwinkel zu realisieren und als das gesamte Konstrukt dann im Verlaufe des Stückes sukzessive zurückgefahren wird, bleibt eine schlichte, leere Bühne, die vollkommen frei von jeglichem Schnickschnack genügend Platz für die große Schauspielkunst gibt. 

,,Eine komische literarische Operette mit sozialkritischen Blinklichtern‘‘

Apropos Schauspielkunst: da ist Nico Holonics, der in der Presse kürzlich ganz unverhohlen ,,sexy‘‘ genannt wurde (man hätte es nicht besser treffen können) und nebenbei aber auch einen sehr eindrücklichen Mackie Messer präsentiert. Dabei kommt seine Konzeption desselben vor allem frech und sorglos daher und Holonics gelingt es, die Grausamkeit dieser Figur doppelbödig herauszuarbeiten. Heißt: gerade in seiner scheinbar frech-harmlosen Art steckt der Bruch dieser Rolle. Aber dieser Abend ist beileibe keine One-Man-Show. Cynthia Micas überzeugt als anfangs naive, später reifere Polly Peachum und Kathrin Wehlisch legt ihren Tiger Brown ebenso spannend an: ambivalent, rauchig, hin- und hergerissen und korrupt.

Diese Inszenierung ist dabei mit ihrem Witz, ihrer Genauigkeit und ihrer Intelligenz keineswegs so dunkel wie die Peymann-Inszenierungen der frühen 2010er Jahre oder so schwerfällig-clownesque wie die Dreigroschenoper des Düsseldorfer Schauspielhaus von vor einigen Jahren – nein, hier ist es erlaubt zu lachen und man merkt, wie das Publikum mitschwingt. Es gibt Szenenapplaus, mal wird gar reingerufen und die Schauspieler jonglieren mit dieser Atmosphäre, ja sie konzipieren die Figuren humoresque und charmant. Das ist natürlich einerseits ein Verdienst der Schauspieler, von denen Nico Holonics als Mackie Messer besonders hell strahlt, aber andererseits auch Auswuchs der Vorstellungen und des gewieften Geistes eines Barrie Kosky, der kürzlich in einem Interview als treffendste Beschreibung für den Geist der Dreigroschenoper ein Zitat vom damaligen Direktor des Theaters am Schiffbauerdamm Ernst Aufricht anführte, der das Werk als ,,eine komische literarische Operette mit sozialkritischen Blinklichtern‘‘ beschreibt. 

Dirigent Adam Benzwi, Regisseur Barrie Kosky und BE-Intendant Oliver Reese © Moritz Haase

Dabei verliert das Stück durch die freche Konzeption keineswegs seinen Inhalt, die Brecht’sche ,,offene Kritik an verkleideten Missständen‘‘. Die gelungene Inszenierung, die grandiose Leistung der Schauspieler ist hier Transponder für den eigentlichen Inhalt. Und – anders als Theodor W. Adorno 1929 diagnostizierte, als er bemerkte, der Erfolg der Dreigroschenoper würde auf einem Missverständnis des unwissenden Publikums beruhen – bemerkt man, wie das Publikum versteht, begreift und nachdenkt. Ein Stück, das Diskussionen anregt, egal ob der Bettlerkönig Peachum, der sein Handeln damit rechtfertigt, man lebe ,,in Zeiten der Notwehr‘‘ oder das schlachtrufartig vorgetragene ,,Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral‘‘.

Fast ein echtes 20er-Jahre-Bühnenorchester

Doch auch die Musik von Kurt Weill, die hier von einer kleinen Besetzung unter der Leitung von Adam Benzwi gespielt wird, darf nicht unerwähnt bleiben. Sie war seinerzeit der Funken, der dafür sorgte, dass in der Premiere des Spätsommers 1928 die Flamme der Begeisterung aufloderte und das Werk ein Erfolg wurde. Und auch in diesem Spätsommer des Jahres 2021 ist wieder die Musik ein elementarer Bestandteil der Inszenierung. Benzwi lässt seine Truppe schmissig auftreten, spielt dabei rotzig-ehrlich ohne an Genauigkeit einzubüßen und man meint ein echtes 20er-Jahre-Bühnenorchester vor sich zu haben. Auch die kleinen, spielerischen Interaktionen zwischen Schauspielern und Orchester sind durchweg gelungen. Überhaupt fühlt man sich mitgerissen von den Songs, die allesamt Weltruhm erlangt haben – gar hört man den ein oder anderen Sitznachbarn mitträllern und die meisten Zwischenapplause (von denen es an diesem Abend ungewöhnlich viele gibt) branden nach der Darbietung von Liedern wie dem ,,Kanonensong‘‘ auf.

Cynthia Micas, Tilo Nest, Constanze Becker © JR Berliner Ensemble

Am Ende erscheint der gesamte Abend wie ein einziger Tanz, ein Liebesduett zwischen Schauspielern und Publikum und man möchte, dass diese Glückseligkeit nimmermehr aufhört. Barrie Kosky ist hier Großes gelungen, denn er hat ohne großes Aufheben daran erinnert, dass Theater Spaß macht – erhebt und sich nicht durch Komplexität, Länge oder bedeutungsschwangeres Deklamieren auszeichnet. Hier hat die Leichtigkeit gewonnen und dabei keineswegs an Tiefe einbüßen müssen – nein, die Brecht’sche Gesellschaftskritik wird klar transportiert. Als das Publikum das Theater verlässt, hört man, wie die Melodien des Abends laut gepfiffen werden und wiegt sich in freudigster Hoffnung auf künftige Theaterabende. Des Nachts wird die Stadt von dieser grandiosen Inszenierung träumen und es steht fest: die nächsten Aufführungen der Kosky’schen Dreigroschenoper sollte man jedenfalls nicht verpassen.

Noch gespielt wird die Dreigroschenoper (Stand 08.09.2021) am 12., 13., 14., 16.10.2021 und vermutlich auch noch einige weitere Male in der Spielzeit 2021/22. Die Spielpläne werden immer zu Beginn des vorherigen Monats veröffentlicht und sind dann unter https://www.berliner-ensemble.de/spielplan einzusehen.