Während die Diskussionen um Klimapolitik den Grünen eine reelle Chance aufs Kanzleramt verschafft hat, treibt es einen anderen Teil der Gesellschaft zur AfD, die vom Klimawandel nichts wissen will. Wir haben mit Politikwissenschaftler Tadzio Müller gesprochen, der in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv ist. 

UnAuf: Du bist ja schon seit langer Zeit ein prominenter Teil der Klimabewegung. Hast du das Gefühl, dass Forderungen der Klimabewegung von der Politik aufgenommen, oder wahrgenommen werden?

Müller: Die werden schon wahrgenommen. Aber das heißt ja nicht, dass sie umgesetzt werden. Zum Beispiel im Herbst 2018, auf dem Höhepunkt des Anti-Kohle-Kampfes, als wir gerade dabei waren den Hambacher Wald zu verteidigen, und Ende Gelände mehrere Jahre mit ihren Aktionen Erfolge erzielt hatte. Da war die Forderung nach einem schnelleren Kohleausstieg sogar bis tief in die AfD-Wähler*innenschaft verbreitet.
Aber was dann passiert, ist: Das politische System nimmt diese Forderung nach einem Kohleausstieg auf, wälzt sie zusammen mit Steuerfragen, Arbeitsplatzfragen und so weiter in die sogenannte “Kohlekommission”, und am Ende kommt ein Kohleausstieg 2038 raus. Das heißt, dass eines der reichsten Länder der Welt erst in knapp zwanzig Jahren aus dem dreckigsten fossilen Brennstoff aussteigt. Das ist völlig lächerlich, angesichts einer sich radikalisierenden Klimakrise. 

UnAuf: Mit der “sich radikalisierenden Klimakrise”, spielst du auf den neuen Sachstandsbericht vom IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) an. Wir könnten 1,5 Grad schon 2030 erreichen, heißt es dort. Hast du das Gefühl, dass es in der Politik eine direkte Reaktion gibt auf solche Neuigkeiten?

Müller: Die Reaktionen haben einen rein performativen Charakter und bringen keine Veränderung. Abgesehen von irrelevanten Statements von Leuten, die zu Fluten hinfahren und da Wahlkampf machen. Aber wenn man sich mal die globalen Emissionstrends der letzten 50, 60 Jahre anschaut und das dann seit Anfang der 90er abgleicht mit dem Anfang eines globales Klimaregimes – Rio-Konferenz, Kyoto Protokoll und so weiter – dann sieht man, dass es da überhaupt keinen Zusammenhang gibt. Mehr Klimapolitik auf der globalen Ebene hat nicht dazu geführt, dass die Emissionen sinken. Das einzige, was die Emissionen beeinflusst, ist mehr oder weniger Wirtschaftsleistung – oder auch: Wirtschaftswachstum, ja oder nein.

UnAuf: Aber es haben sich schon einige Politiker*innen und auch die Regierung zu dem neuen Sachstandsbericht geäußert.

Müller: Nach dem IPCC-Bericht gab es einen großen Aufschrei „Oh Gott wir machen nichts, wir machen nichts!“. Welcher politische Akteur war denn da und hat gesagt „Hey, hier ist mal ein Vorschlag, wie man darauf adäquat reagieren könnte.“ Da war keine Partei am Start, was eben daran liegt, dass wir als Gesellschaft keine realistischen Optionen haben, darauf zu reagieren.

Tadzio Müller
Tadzio Müller, Foto: BWE/ Silke Reents

UnAuf: Würdest du dann auch sagen, dass es überhaupt keinen Unterschied macht, wie die Bundestagswahl ausgeht?

Müller: Nein, das würde ich nicht sagen, weil Klimapolitik ja durchaus in anderen Politikfeldern gemacht wird. Zum Beispiel in Fragen der Verkehrspolitik, der Industriepolitik oder der Energiepolitik. Und da kann man auf jeden Fall Klimapolitik machen. Ich sage nur, dass in der Klimapolitik sehr wenig Klimapolitik gemacht wird. Aber auf jeden Fall kann man Sachen ändern. Der Corona-Lockdown zum Beispiel hat gezeigt, dass Regierungen in der Lage sind, Wirtschaften runterzufahren. Der Corona-Lockdown war ein global koordiniertes Runterfahren des globalen Kapitalismus. Ich komme aus der globalisierungskritischen Bewegung, wir dachten eigentlich, so einen Hebel gebe es gar nicht. Das heißt, ich bin überhaupt nicht einer der sagt, Politik ist irrelevant, aber sie muss halt an den richtigen Stellschrauben ansetzen.

UnAuf: In ganz vielen Parteiprogrammen, bis auf das der Linken, wird sich zuerst mal besonders auf den Emissionshandel gestürzt. Die Grundlogik klingt ja auch einleuchtend: man einigt sich auf ein klares Budget, mit den Emissionszertifikaten wird gehandelt und so entsteht ein Markt. Was entgegnest du da?

Müller: Es ist so, dass wir mittlerweile sehen, um das Klima zu retten, müssen wir radikale Strukturveränderungen durchsetzen. Der Emissionshandel, auch wenn er genauso funktionieren würde, wie er es sollte, ist designed, um zuerst mal die sogenannten “low hanging fruits”, die einfachen Emissionsreduktionen, zu ermöglichen. Das heißt, es ist schon vom Design genau das falsche politische Instrument. Es gibt außerdem strukturelle und kontextuelle Gründe, warum Emissionshandel nicht das adäquate Mittel ist. Er wirkt attraktiv, weil er in einer zutiefst neoliberalisierten Gesellschaft als marktbasiertes Instrument vernünftig erscheint. Aber wer nach der Finanzkrise immer noch sagt, dass Märkte effizient und vernünftig Ressourcen zuteilen, der hat irgendwie nicht richtig hingeschaut.

UnAuf: Lass uns auch kurz über die CO2-Bepreisung sprechen – die Grünen sagen zum Beispiel 60 Euro pro Tonne CO2, die Linken lehnen das ab. Die Linksjugend Solid hat 180 Euro gefordert, was ja auch Fridays for Future fordert.

Müller: Im Grunde würde ich sagen, die Linke hat ein gewisses attachment zur Idee des Ordnungsrechts versus preisbasierte Mechanismen, also Emissionshandel oder Kohlenstoffsteuer. Damit steht sie auch tatsächlich empirisch gut da: Ordnungsrecht ist ökologisch effektiver als der Preismechanismus. Das Problem, wenn man ein fossiles Energiesystem durch den Emissionshandel abschaffen will, ist, dass es halt nicht so einfach substituierbar ist. Natürlich gibt es erneuerbare Energien, aber wir wissen auch, dass sie vom Primärenergieverbrauch noch nicht so viel ausmachen. In manchen Bereichen, wie zum Beispiel Wärme, ist es wahnsinnig schwer zu substituieren.

UnAuf: Also Ordnungsrecht statt Marktmechanismus?

Müller: Im Grunde ist die Idee, ein fossiles Energiesystem mit dem Emissionshandel auszuhebeln, einfach unrealistisch. Das kann nicht wirklich funktionieren, da muss man ordnungsrechtlich rangehen. Auch, damit es demokratischer werden kann. Wenn wir jetzt über den Preis einer Tonne CO2 diskutieren, dann ist das eine totale Elitendebatte. Man muss ungefähr verstehen, wie sich der Preis anpasst, und so weiter und so fort. Aber wenn ich sage, an Datum X darf Technologie Y nicht mehr verwendet werden, dann ist das ein klares gesellschaftliches Statement, das verstehen Leute, dafür können Leute auf die Straße gehen. Es ist wahnsinnig schwer für eine relative Veränderung eines Preises auf die Straße zu gehen. Aber wenn wir sagen Verbrenner-Aus bis 2025 oder 2035, dann ist das viel leichter zu verstehen und da können Leute auch für kämpfen.

UnAuf: Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteilsspruch vom 29.04. verkündet, dass die aktuellen Klimaschutzgesetze die Generationengerechtigkeit nicht ausreichend sichern und damit verfassungswidrig sind. Wie hast du das eingeordnet?

Müller: Also es ist auf jeden Fall interessant, dass das Bundesverfassungsgericht in einem gewissen Sinne Klimaschutz dadurch rechtlich, wenn nicht ermöglicht, dann doch zumindest erleichtert hat. Jetzt hat man ein Rechtsgut, das man gegen Dinge wie Privateigentum oder Vertragssicherheit eventuell in die Waagschale werfen könnte. Das Problem ist, dass von da aus nichts passiert. Es war schon oft so, dass man mal sagt „ah, hier ist ein Turning Point.“ Den habe ich aber bisher nicht gesehen. Das Urteil ist von März. Gleichzeitig ist es ja so, dass von den drei großen Parteien, die es jetzt gibt, zwei immer noch sagen „wir bleiben beim Kohleausstieg 2038“. Und auch die Grünen wollen es eigentlich eher über den Markt regeln, als über politische und gesellschaftliche Entscheidungen. Das heißt, mir ist noch gar nicht klar, was der Effekt des Urteils sein wird und ich habe einfach gelernt, skeptisch zu sein. Nach 14 Jahren Klimapolitik bin ich ein bisschen berufsdeprimiert.

UnAuf: Aber denkst du nicht, dass durch dieses Urteil, aber auch durch starken Unwetter-Ereignisse in vielen Teilen Deutschlands, die Klima-Bewegung eine neue, eine stärkere Legitimation erfährt?

Müller: Die Frage, die ich mir stelle ist: Wer holt eigentlich dieses Gefühl von radikalisierter Krisenwahrnehmung in der Bevölkerung ab? Denn es gibt ja dieses Gefühl, diese Rheinlandfluten haben ordentlich reingehauen. Was mir da auffiel, ist, dass mittlerweile Leute, die eigentlich ganz weit weg sind von den bildungsbürgerlichen Diskursen, klar wird: „Hey hier passiert was ganz, ganz Radikales, was ganz Drastisches.“ Und ich glaube, es gibt momentan keinen politischen Akteur, der das abholen kann. Ich glaube, ja, es wäre die Rolle der Klimabewegung, das zu tun.

Indem wir eben sagen, „Okay wir machen jetzt nicht nur zivilen Ungehorsam”, wir machen das, was ich in den letzten Wochen friedliche Sabotage genannt habe. Dass wir sagen, wir gehen zum Beispiel zu einer Baustelle oder einem Tagebau und wir versuchen, nicht nur symbolisch zu blockieren, sondern, dass wir zeigen: diese Dinge müssen kaputt gehen. Denn die Regierungen, die Parteien, die Wirtschaft machen es ja nicht. Die Klimakrise bringt mittlerweile Leute um. Ab wann wird dann sozusagen friedliche Sabotage tatsächlich Notwehr? Ich würde sagen, diesen Punkt haben wir auf jeden Fall mit dem neuen IPCC Bericht erreicht.

UnAuf: Fridays for Future bringt viel Öffentlichkeit auf das Thema, aber verändert erst mal nichts. Kann man das so sagen?

Müller: Ich war ja etwas enttäuscht, dass Fridays for Future nicht eine radikalere Position eingenommen hat. Ich hatte gehofft, dass ihr Generationen-Interesse sie zu einem radikaleren Akteur machen würde. Es wird nicht ohne massiven Konflikt in dieser Gesellschaft gehen, es wird keine klimagerechte Politik in Deutschland geben, ohne massive Konflikte in der Gesellschaft, wo Teile dieser Gesellschaft gegen andere Teile der Gesellschaft kämpfen. Wenn Fridays for Future sich als Generation konstituiert, dann haben sie ein ganz klares Interesse, gegen wen zu kämpfen ist. Und dann wären glaube ich auch Massenmobilisierungen mit 1,4 Millionen und friedliche Sabotage möglich. 

UnAuf: Also würdest du sagen, es ist hauptsächlich eine Frage der Mobilisierung? 

Müller: Im Moment glaube ich, dass man diese radikaleren Aktionsformen erst mal anfangen muss, salonfähig zu machen, und diskursiv zu legitimieren. Weil die werden kommen, über die wird jetzt schon in der Klimabewegung geredet und wir haben, glaube ich, die Aufgabe, im Vorfeld schon Leuten zu erklären: “Das wird passieren. Don’t be surprised, when shit starts breaking. Denn schau mal ins Rheinland: shit is already broken.” 

UnAuf: Ein großer Teil der Gesellschaft steht aber vermutlich nicht hinter solchen “radikaleren Aktionsformen”.

Müller: Wir leben in einer Gesellschaft, deren grundlegender Wohlstand darauf beruht, dass sie die Welt kaputt macht. Allein das bedeutet, dass sie nicht das Recht hat, anderen zu sagen, was legitim und richtig ist. Aber diesen Raum muss man halt schaffen. Jede Gesellschaft gibt sich Regeln, die die Gesellschaft reproduzieren. Eine rassistische Gesellschaft gibt sich rassistische Regeln, eine patriarchale Gesellschaft patriarchale und so weiter. Sich also an die Regeln der Gesellschaft halten, ist ein sicherer Weg, sie nicht zu verändern. Deshalb braucht es mehr wirkungs- und diskursmächtige Menschen von oldschool Intellektuellen bis newschool Influencern, die einfach genau diese Geschichte erzählen: “Liebe Leute: die Klimakrise eskaliert, die Regierung macht nichts, ab jetzt beginnt die Notwehr.”


Alles Neu? Das haben sich die Redaktionen des Campusradio couchFM und der UnAufgefordert zum Wahljahr 2021 gefragt. Die beiden gemeinsam produzierten Fernsehsendungen zur Bundestagswahl und zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses gibt es bei Alex Berlin zu sehen.

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Foto: Markus Spiske/ unsplash.com