Jan Riebe ist Bildungsreferent bei der Amadeu Antonio Stiftung, die seit über 20 Jahren bundesweit Initiativen unterstützt, die sich gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus einsetzen. Mit der UnAuf spricht Riebe über die Neue Rechte und die Rolle der Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus.

UnAuf: Was machen Sie genau in der Amadeu Antonio Stiftung?

Riebe: Die Amadeu Antonio Stiftung macht eigene Projekte, fördert aber auch Projekte von Initiativen, die in diesem Bereich arbeiten. Ich persönlich beschäftige mich mit der extremen Rechten und arbeite in der Fachstelle “Gender, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus”. Außerdem bin ich Teil des Kompetenznetzwerks “Rechtsextremismusprävention”, das vom Bundesfamilienministerium gefördert wird.

UnAuf: Sie arbeiten zu der extremen Rechten. Inwiefern gibt es in Deutschland aktuell einen Rechtsruck?

Riebe: Ich wäre immer sehr vorsichtig mit der Aussage, dass es einen Rechtsruck gibt. Das wird zwar alle Jahre konstatiert, dennoch würde ich sagen, dass die Formulierung nur in Teilen richtig ist. Wir erleben seit 2015, dass größere Teile der Bevölkerung, die nicht rechtsextrem sind, die Nähe zu Rechtsextremen suchen, zumindest nicht vor ihnen zurückschrecken.

Früher war ganz klar: Man geht nicht mit Neonazis auf Demonstrationen. Das hat sich seit 2015 geändert – während der Proteste gegen Geflüchtete, aber auch aktuell bei den Corona-Protesten, wo wir sehen, dass Bürgerinnen und Bürger mit der Neuen Rechten demonstrieren und sagen: “Wir haben doch das gleiche Anliegen. Das ist doch kein Problem.” Diese Situation kann die Demokratie in ihren Grundfesten gefährden.

UnAuf: Wer ist die Neue Rechte, von der Sie gerade gesprochen haben?

Riebe: Der Begriff der Neuen Rechten ist in den letzten Jahren sehr populär geworden und umfasst in der Öffentlichkeit oft ein größeres Spektrum, als wir es beschreiben würden. Von der Neuen Rechten reden wir, wenn es um eine Art intellektuellen Rechtextremismus geht. Die Neue Rechte hat sich mit der Absicht gebildet, nicht mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht zu werden. Ihnen soll möglich sein, ihrer Ansicht nach, konservative Positionen zu vertreten, ohne mit dem Nationalsozialismus kontaminiert zu sein. In Wirklichkeit vertritt die Neue Rechte jedoch ganz klar rechtsextreme Positionen.

In Deutschland sind beispielsweise das Institut für Staatspolitik mit Erik Lehnert und Götz Kubitschek, einige rechts-intellektuelle Magazine wie das Compact Magazin von Jürgen Elsässer, aber auch Teile der AfD zur Neuen Rechten zu zählen.

UnAuf: Inwieweit gibt es eine Verbindung zwischen der Neuen Rechten und der AfD?

Riebe: Die AfD ist der parlamentarische Arm des Rechtsextremismus. Erik Lehnert, der das Institut für Staatspolitik leitet, arbeitet im Bundestag für einen AfD-Abgeordneten. Die Neue Rechte gibt ganz offen zu, dass sie den Parlamentarismus ablehnt, aber arbeitet trotzdem mit Parlamentariern zusammen, weil für sie die AfD und ihr Wirken im Parlament ein Mittel zum Zweck ist. Nämlich dem Zweck, die Demokratie in der jetzigen Form abzuschaffen. Die Neue Rechte sagt natürlich nicht, dass sie sofort eine Diktatur errichten will. Was sie will, ist, die parlamentarische Demokratie abzuschaffen.

UnAuf: Welche Gefahr geht von der Neuen Rechten aus?

Riebe: Die Gefahr ist, dass es das “Schmuddelkinder-Image”, das der Rechtsextremismus früher hatte, nicht mehr gibt. Jetzt ist es möglich, mit Rechtsextremen zu demonstrieren und sie zu Veranstaltungen einzuladen. Dadurch kriegen rechtsextreme Positionen eine viel größere gesellschaftliche Relevanz, sodass sie neben demokratischen Positionen diskutiert werden. Diese klare Trennung zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Positionen gibt es nicht mehr und das ist immer das Ziel der extremen Rechten gewesen. Sie wollen über ihr Spektrum hinaus wirken. Das können sie nur, wenn sie in das vormals demokratische Spektrum, in die Mitte der Gesellschaft, wirken. Das schaffen sie in Teilen durch die Neue Rechte.

UnAuf: Seit 1990 gibt es über 200 Todesopfer rechtsextremistischer Gewalt. Was läuft bisher in der Beobachtung von Rechtsextremisten falsch?

Riebe: Um einmal etwas Positives zu sagen: Es ist erfreulich, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer den Rechtsextremismus mittlerweile als die größte Gefahr für unsere Demokratie einschätzt. Das war lange nicht so. Als Hans-Georg Maaßen noch den Verfassungsschutz leitete, hatte Rechtsextremismus noch nicht die Priorität, die er haben musste – immerhin ist Maaßen als Konsequenz aus dem NSU-Versagen eingesetzt worden. In einigen Teilen der Behörden gibt es noch nicht die Wahrnehmung, dass Rechtsextremismus eine wirkliche Gefahr ist.

UnAuf: Mit Blick auf den NSU und die damalige Arbeit des Verfassungsschutzes: Haben sich die Sicherheitsbehörden seitdem weiterentwickelt?

Riebe: Es gab in unterschiedlichen Behörden des Verfassungsschutzes Reformen. In Thüringen hat man beispielsweise mit Herrn Stephan Kramer jemanden eingesetzt, der nicht aus dem System des Verfassungsschutzes kam. Das ist ein Versuch. Es ist notwendig, dass es einen Verfassungsschutz gibt, der seinem Namen gerecht wird und nicht in Teilen ein Teil des Problems selbst ist. In Hessen wissen wir bis heute nicht, ob ein Verfassungsschutz-Beamter dem NSU nahestand und an der Ermordung eines Opfers des NSU beteiligt war.

Der Verfassungsschutz ist eine Blackbox. Wir können nicht reingucken. Wir wissen nicht, was die Beamten machen. Wir wissen nicht, was sie Gutes machen, aber auch nicht, was sie Schlechtes machen. Das V-Leute-System beispielsweise: Ein System der bezahlten Neonazis, die für den Verfassungsschutz arbeiten und dadurch die Neonaziszene finanzieren. Ob dadurch mehr Schaden als Nutzen angerichtet wird? Auch das wissen wir nicht.

Was wir brauchen, ist mehr Transparenz. Der Verfassungsschutz arbeitet für den Staat und für die Gesellschaft, also muss er auch Einblick in seine Arbeit gewähren und nicht immer mit der Begründung des Quellenschutzes Akten schließen. In Hessen entscheidet eine Landesregierung unter Beteiligung der Grünen, dass NSU-Akten jahrzehntelang verschlossen bleiben. Das kann nicht sein. So kann man Rechtsextremismus nicht bekämpfen.

UnAuf: Auch die Polizei ist Teil der Debatte um Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden. Seit einiger Zeit werden immer wieder rechte Chatgruppen von Polizist*innen aufgedeckt. Gibt es ein rechtsextremes Netzwerk in der deutschen Polizei?

Riebe: Es sind zu viele Einzelfälle, als das man wirklich daran glauben kann, dass es Einzelfälle sind. Leute mit einer ähnlichen Vorstellung, mit einer ähnlichen Ideologie, werden sich immer vernetzen und das auch bei der Polizei. Wir stellen fest, dass diejenigen, die auffliegen, eher dilettantisch arbeiten, sich über Telegram-Kanäle vernetzen, eindeutige Bilder und Nachrichten posten und immer nur durch Zufall entdeckt werden. Deshalb ist das Problem viel größer. Es gibt einige in der Polizei, die das Thema Rechtsextremismus engagiert angehen wollen, aber das sind viel zu wenige. Die Polizei wird ihren Aufgaben nicht gerecht, nämlich die Bevölkerung zu schützen – und zwar alle in der Bevölkerung und nicht nur weiße Menschen.

UnAuf: Wieso gibt es dann noch immer keine unabhängige Studie zu Rechtsextremismus in der deutschen Polizei?

Riebe: Ich gehe fest davon aus, dass es große Angst vor den Ergebnissen gibt. Die Aussage von Herrn Seehofer ist da schon lachhaft, Rechtsextremismus und Rassismus seien verboten und deshalb gebe es das auch bei der Polizei nicht. Und wenn doch, dann seien das extreme Ausnahmefälle und die würden alle entdeckt. Ich glaube man hat wirklich Angst vor der Wahrheit. Außerdem wäre die Konsequenz einer solchen Studie, dass man eine große Polizeireform machen müsste. Das ist kein Gewinnerthema, vor allem nicht im Wahlkampf. Deshalb versucht die Politik lieber mit Nebelkerzen einzelne Studien zu machen, die aber nicht den Kern des Problems untersuchen.

UnAuf: Was muss die Politik konkret tun, um Rechtsextremismus erfolgreicher bekämpfen zu können?

Riebe: Bislang werden zivilgesellschaftliche Gruppen allein gelassen. Es braucht mehr Unterstützung von Seiten der Bundesregierung – und zwar durch ein Demokratiefördergesetz, mit dem Ziel, dass zivilgesellschaftliche Organisationen nicht jedes Jahr einen neuen Antrag stellen müssen, um Gelder zu bekommen. Aktuell sind die Verträge nur befristet, wodurch viel Personal verloren geht, weil Mitarbeitende sagen, dass sie mit einem Jahresvertrag beispielsweise nicht einmal eine Wohnung anmieten können.

Die Zivilgesellschaft muss durchgehend gefördert und geschützt werden, damit sie sich engagiert gegen Rechtsextremismus einsetzen kann. Gerade bezogen auf den Schutz bedeutet das auch, dass die Politik Konsequenzen aus den Erkenntnissen über die Gefahr von rechts ziehen und die Sicherheitsbehörden reformieren muss. Das ist in Teilen schon passiert, muss aber noch viel konsequenter weitergeführt werden.

Ein letzter wichtiger Punkt ist, dass die Politik die scheinbare Diskrepanz zwischen den Entscheidungsprozessen im Bundestag und der Wahrnehmung in der Bevölkerung verkleinern muss. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das Gefühl, dass sie nicht mehr eingebunden sind und fühlen sich ohnmächtig. Sie müssen merken, dass ihre Positionen berücksichtigt werden. Geschieht das nicht, werden Politikerinnen und Politiker immer mehr als abgehobener Haufen wahrgenommen. Und darauf zielt die Neue Rechte ab, denn an diesem Punkt können sie angreifen und laut fordern, den Parlamentarismus abzuschaffen.


Alles Neu? Das haben sich die Redaktionen des Campusradio couchFM und der UnAufgefordert zum Wahljahr 2021 gefragt. Die beiden gemeinsam produzierten Fernsehsendungen zur Bundestagswahl und zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses gibt es bei Alex Berlin zu sehen.

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Foto: Melany Rochester/ unsplash.com