Am 02.10.2021 begann in der Komischen Oper Berlin die Uraufführung die Produktion ,,Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘‘. In der dieswöchigen Kulturkolumne soll nun besprochen werden, warum es sich bei dieser Produktion um eine Enttäuschung handelt, warum man trotzdem in die Komische Oper gehen sollte und warum es sich lohnt eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung im Opernhaus zu sein.

Dass Berlin als einzige europäische Stadt drei Opernhäuser vorweisen kann, ist nicht nur den historischen Verwerfungen in dieser Stadt oder der Tatsache, dass man sich hier erfolgreich gegen die staatliche Verstümmelung des Kulturbetriebs gewehrt hat, geschuldet – nein, es handelt sich dabei auch um einen für Kulturbegeisterte sehr angenehmen Zustand. Dabei muss man immer wieder feststellen, dass jedes Opernhaus seine ganz eigenen Besucherkreise anzieht. Während die Deutsche Oper von der Charlottenburger Hautevolee besucht wird und hin und wieder die Bundeskanzlerin in Begleitung des Gatten vorbeischaut, trifft man in der Staatsoper unter den Linden auch das ein oder andere Hipsterpärchen, die sich mit langem Bart und Blümchenkleid neben jungen Herren, die sich gerne kleiden wie ihre Großväter, zum Abgeben der Mäntel an der Garderobe drängen.

Vergleicht man nun eben jenes Publikum mit denen, die die Komische Oper frequentieren, scheinen die Erstgenannten fast blass. Schon seit einigen Jahren gilt das Haus an der Behrensstraße als Geheimtipp für all jene, denen die großen deutschen Opernwerke zu holzvertäfelt sind und für die das klassische italienische und französische Opernrepertoire ewig gleichklingend daherkommt. 

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So trifft man, wenn man sich schon etwas länger vor dem eigentlichen Vorstellungsbeginn am Entrée der Komischen Oper einfindet, auf französische Reisegruppen, amerikanische Opernliebhaber und langbärtige Spanier, denen der Opernabend eine liebe Abwechslung zum touristischen Tagesprogramm ist. Man trifft auf mittelalte Arbeitskolleginnen im Kleid mit Erdbeer-Print, die sich zuraunen: ,,Jetzt muss ich noch meine Schuhe wechseln!‘‘; man trifft auf jung-gebliebene Ehemänner, die ihr Hemd partout nicht in die Hose stecken möchten und ihre Ehefrau mal wieder ,,ausführen‘‘ wollen; man trifft auf Gymnasiasten, die für ihre Freundin ein ,,romantisches Date‘‘ organisiert haben und bei denen der HM-Anzug immer ein wenig zu eng sitzt und man trifft – und das spricht sehr für die Komische Oper selbst – auf Zaungäste, die Pappschilder mit der Aufschrift ,,Suche Karte zahle jeden Preis‘‘ hoffnungsvoll in die Höhe recken. Wenn man dann in das Gebäude hinein und das prachtvolle Treppenhaus hinaufhuscht, wird einem mal wieder bewusst, dass es einzig die älteren Herrschaften sind, die in der Lage sind sich wirklich standesgemäß zu kleiden und man meint, elegante Krawattenknoten und die passenden Schuhe zum Anzug seien für Menschen unter 70 eine Sache der Unmöglichkeit.

Eine heutige Geschichte

Dabei sind all diese mode-soziologischen Spitzfindigkeiten, Betrachtungen und Beobachtungen eigentlich hinfällig, denn ,,hier gilts der Kunst‘‘ – um mit den Worten des größten deutschen Komponisten zu sprechen. Die Kunst – das ist an diesem Abend die Produktion ,,Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘‘, die eine sehr heutige Geschichte erzählt. Man gründet eine Paradiesstadt um Geld zu verdienen, indem man es anderen abnimmt, alles gerät außer Kontrolle und am Ende wird einer gehenkt, weil er gegen die einzige Regel verstößt, die das lautet ,,Geld hat man zu haben‘‘. Typisch Brecht könnte man meinen. Wer nun aber schlichtweg ,,Geld macht schlecht‘‘ schlussfolgern will, macht es sich zu einfach. Fragen nach der Beziehung des Goldsuchers Jim und der Prostituierten Jenny drängen sich auf, Fragen nach Freundschaft, Verrat und enttäuschten Hoffnungen. Es geht darum die Banalisierung der Sexualität zu verhandeln und die schleichende Verrohung des Menschen zu befassen. In Zeiten, in denen immer wieder von einem ,,Kulturverfall‘‘ die Rede ist, müsste die Thematik also ganz den Nerv der Zeit treffen.

Das Publikum hoffte, dass sich diese Inszenierung mit der der Dreigroschenoper im Theater am Schiffbauerdamm messen könne

Man ist also mit einer großen Vorfreude und voller Spannung ins Opernhaus eingerückt und hoffte zudem, dass sich die Inszenierung von ,,Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘‘ mit der der Dreigroschenoper im Theater am Schiffbauerdamm messen könne. Immerhin waren die Koordinaten ähnlich: das Werk eine Ko-Produktion von Bertolt Brecht und Kurt Weill, die Inszenierung konzipiert von Barrie Kosky. Doch statt eines Feuerwerks an witzigen Doppelbödigkeiten und humoresquer Tiefsinnigkeit erlebte der Zuschauer eine Inszenierung, die mit Einfallslosigkeit glänzte.

Das Bühnenbild – vermutlich minimalistisch gemeint – bleibt ohne jedes Leben, wo im ersten Teil ein Bühnenkasten aus zwei hohen schwarzen Wänden mit Keilmuster die Bühnenbegrenzung bildete, kamen hier im zweiten Akt lange spiegelnde Glas- und Spiegelelemente zum Einsatz, von denen aber die Meisten voller Fettflecken waren und so ihre Wirkung regelmäßig verfehlten. Es ist nämlich überhaupt nicht zu kritisieren, wenn man am Theater mit einem sehr minimalistischen Bühnenbild arbeitet, aber in so einem Fall muss die Schauspielkunst hier noch viel farbprächtiger ausmalen als sonst. Auch das gelingt nur sehr partiell. 

 Allerhöchste Präzision und Treffsicherheit wird verlangt

Von den Sängern sticht einzig Alma Sadé als Jenny Hill hervor, die die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit ihrer Rolle auch in den Singpartien mit großer Tiefe hervorbringt. In allen anderen Fällen wird zwar zufriedenstellend Theater gespielt, aber die Singpartien wirken oft nicht stimmig und schlichtweg schlaff. Vermutlich haben die Sänger noch zu sehr an der avantgardistischen Komposition Kurt Weills zu knacken, die allerhöchste Präzision und Treffsicherheit verlangt. An der Musik kann es derweil nicht liegen, denn das Orchester der Komischen Oper unter der Ägide von Ainars Rubikis spielt überzeugend, wobei insbesondere die Blechbläser strahlend und sehr präsent intonieren. Man erfreut sich an der großzügigen Besetzung und meint ob der prallen Klangqualität ein weitaus größeres Orchester vor sich zu haben.

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Doch bei aller Kritik müssen auch die schönen Momente des Abends zur Sprache kommen. Das sind jene Momente, in denen deutlich wird, dass die Inszenierung eine konkret Kosky’sche Handschrift trägt. Ganz eindrücklich gelingt etwa die Charakterisierung des langsamen Abgleitens in die Perversion der Anarchie. Eine grenzen- und gesetzlose Welt, in der nur das Fressen, der Geschlechtsakt und die Vergnügung von Bedeutung sind. Wie Tiere steigen da etwa je drei Männer eine Treppe hinab, um sich dem sexuellen Genuss an einer der Prostituierten ganz hinzugeben und haben nichtmals genügend Zeit, um ihr Beinkleid wieder ordentlich zu richten, weil gleich der nächste Stoßtrupp die Treppe hinuntereilt. Hier kommt das Tier im Menschen zum Vorschein. Dabei wirkt die gesamte Szene fast lustig, fast heiter, im Publikum wird etwa laut aufgelacht, als der Kreislauf der zur Prostituierten eilenden immer rasanter geht und die eigentlich ernste Szene zur Slapstick-Nummer verkommt.

Diese Szene ist auch deswegen eine beachtliche Leistung, weil es sich hierbei um eine Massenszene handelt, bei der die ganze Bühne voller Menschen steht. Jeder, der schon einmal auf einer Bühne gestanden hat weiß, dass es genau jene Massenszenen sind, die das Ensemble ganz besonders herausfordern – eben weil sie ganz leicht und dynamisch wirken müssen, zugleich aber beste Koordination von jedem Einzelnen verlangen. Dass Kosky eine nicht geringe Anzahl dieser Massenszenen in seine Inszenierung eingebaut hat zeigt Wagemut, der sich hier auszeichnet.

Ein ambivalentes Bild

Es ist also ein ambivalentes Bild, das man aus dieser Produktion mitnimmt. Einerseits hat der Theaterabend ein Nachdenken über die genannten Problemstellungen angeregt, die Leistungen des Orchesters und des Gesamtensembles waren beachtenswert, anderseits hatte die Produktion nicht die erhoffte Strahlkraft und Fülle. 

Und trotzdem darf nicht unvergessen bleiben, dass die Komische Oper ein sehr reiches Programm auch abseits dieser Produktion zu bieten hat. Schlägt man das Programmheft auf, scheinen einem die bunten Bühnenbilder und die kraftvolle Musik entgegenzuspringen und man ist bemüht sich gleich am Kartenhaus anzustellen um bei den Karten für  ,,Anatevka‘‘, ,,Les Contes d’Hoffmann‘‘ oder die ,,Zauberflöte‘‘ bloß nicht leer auszugehen. Es sei einem jeden ans Herz gelegt, dem Haus an der Behrensstraße einen Besuch abzustatten. Dann wird man auch wohlwollend über die Schwächen des besprochenen Werkes hinwegsehen können.