Sibylle Berg zeichnet mit ihrem Stück ,,Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden‘‘ ein Sittenbild einer Zeit der Silkes, Holgers und Sabines, die einen Thermomix besitzen und von Immobilien an der Côte Azur träumen. In diesem Januar ist das Stück noch zweimal auf die Bühne des Gorki-Theaters gekommen, Uraufführung war schon am 24.10.2020.
Bei ,,Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden‘‘ handelt es sich um ein Stück, das nur für Menschen mit Fähigkeit zur Selbstironie geeignet ist. Sibylle Berg gelingt es nämlich einen so detailreichen Stich unserer Zeit anzufertigen, das kaum jemand den Saal verlässt, ohne sich nicht angesprochen und damit auch ertappt zu fühlen. Und das wird auch ganz offen artikuliert, wo es heißt: ,,Hier in diesem Saal ist eine Menge von dem zugegen, was ich verachte!‘‘. ,,Ganz zu recht!‘‘, ruft da ein Zuschauer aus der zweiten Reihe und sorgt für zusätzliches Gelächter. Ein Sittenbild einer Gesellschaft also, die in Neubaugebieten verklinkerte Doppelhaushälften bewohnt, in denen es Küchen gibt ,,in denen sich Familienmitglieder, die alle Ulrike heißen, Mini-Salamis zubereiten‘‘. Eine Schilderung von gemeinsamen Urlauben überkandidelter Freundinnen, in denen Ferienbilder ,,performt‘‘ werden und wo man sich Dinge fragt, wie ,,Warum langweile ich mich so aufgrund der abgeschlossenen Lebensplanung rund um mich?‘‘. Da hat man ,,keine neuen Ideen sondern Kinder‘‘ und das höchste der Gefühle wird markiert mit dem Ausruf ,,Hurrah, ich passe noch in meine Jeans!‘‘.
Doch wie verpackt Regisseur Nübling diesen Inhalt rein inszenatorisch? Da sind die vier völlig gleich gekleideten Schauspielerinnen im bau-weiß-gestreiften Bademantel, mit großen Hornbrillen und einheitlich grauen-unscheinbaren Figuren vor einem silbrigen Hintergrund. Immer wieder wird gerannt, mal dreht eine der vier laut hämmernde Musik auf, sodass man sich wie im Club fühlt und dann rennen alle wieder wie wild geworden über die Bühne. Nübling gelingt es, mit etwaigen übermäßigen inszenatorischen Extravaganzen sparsam umzugehen, – immer gemessen am Maßstab des kontemporären Theaters – um so genügend Raum für den genialen Text von Autorin Sibylle Berg zu lassen.
Auch das Quartett der Schauspielerinnen glänzt auf ganz eigene Weise. Eindrucksvoll ist vor allem der Umstand, dass, obwohl alle gleich kostümiert sind und über lange Passagen auch in einem einheitlich, kollektiven Chorus vorgetragenen Sprechgesang parlieren, doch auch jede der vier Frauen ihre ganz eigenen Momente hat. Da ist etwa die berühmten, talentierten und allseits bekannte Schauspielerin Katja Riemann, die nicht nur eine enge Freundin von Sybille Berg ist, sondern auch mit ihrem kontrastreichen, unbeeindruckten und abstrakten Spiel überzeugt. Noch stärker strahlt aber Svenja Liesau, die kurz vor Ende des Stückes eine beeindruckende Suada der Improvisation vorlegt und mal brüllend, mal weinend, mal lallend, mal fordernd ans Publikum gewandt in völlig besoffenen Zustand davon berichtet, dass ,,die Welt, wie wir sie kennen, schon vor einiger Zeit den Polnischen‘‘ gemacht habe. Völlig trocken konstatiert sie: ,,Der Orgasmus unseres Erwachsenenlebens ist der Erwerb einer Immobilie.‘‘. Ist sie wirklich besoffen? Hat sie tatsächlich ihren Text vergessen, wenn sie immer wieder stockt, unterbricht, mit neuen Gedanken ansetzt? Oder alles nur Show? Aber auch Vidina Popov und Anastasia Gubareva spielen eindringlich und überzeugend, wenn sie vor kleinen Pulten mit Synthesizern stehen und süffige Lieder grölen oder dann wieder die Geräusche einer sterbenden Frau auf einer Intensivstation trefflich nachahmen.
Es ist eh zu spät, irgendetwas zu retten
Alles hat ein wenig den distanziert betrachtenden Charakter der Schriften des viel zu früh verstorbenen Publizisten und Linksintellektuellen Roger Willemsen (†2013), nur dass Berg nicht liebevoll wie Willemsen in seiner Zukunftsrede ,,Wer wir waren‘‘ Sätze schreibt wie: ,,Wir waren jene […] voller Information, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung.‘‘ Bei Berg ist das dann eher im Stile eines: ,,Es ist eh‘ zu spät, irgendwas zu retten – die Welt zum Beispiel.‘‘ Und doch wird es immer wieder auch tiefgründiger, existentialistischer, etwa wo es heißt: ,,Plötzlich schaute da keiner mehr, das hieß sie hatte aufgehört zu existieren.‘‘. Man mag das bösartig finden, bei genauerer Betrachtung fällt aber auf, dass es kaum einen kontemporären deutschsprachige*n Autor*in gibt, der*die es vermag, so scharfzüngig wie Berg zu schreiben. So prägnant beobachtend und so treffsicher kritisierend – es ist ein Fest hier zuzuhören.
Und doch: Das Gebrüll, das Lamentieren und die Lichtshow im Hintergrund, die hochgedröhnte Musik – all‘ das vermag auch nichts daran zu ändern, dass im Publikum mittelalte Frauen in Filzgarnituren sitzen, die sich gegenseitig sowas fragen wie: ,,Hast du mal wieder die Sabine getroffen?‘‘ Nein, habe ich nicht und ich bin nicht traurig drüber. Es ist die ewig gleiche Geschichte vom kritischen Theater: Da müht man sich ab, um eine Inszenierung, die schockt, der Text ist prägnant, klar und am Ende sitzen genau die Leute, deren Lebensstil der Lächerlichkeit preisgegeben werden soll, im Publikum und lachen laut mit. Haben die überhaupt irgendetwas verstanden? Dass Sibylle Berg in bestimmten Kreisen der Gesellschaft, insbesondere unter den Linken und Studierenden, eine gefeierte Autorin ist und man ihr immer wieder den Literaturnobelpreis wünscht, geht an denen vielleicht aber nicht spurlos vorbei.
Vielleicht liegt es an der Inszenierung, vielleicht liegt es am zugrundeliegenden Text. Aber, es bleibt dabei: Dieser Abend ist die berühmten zwanzig Minuten zu lang. Das sind zwanzig Minuten, in denen nichts mehr substantielles gesagt wird, in denen man das Publikum gern Armbanduhr schielen sieht und in denen die vorher so trefflich kontrastierend eingesetzte brüllende Musik schlichtweg nervtötend wird. ,,Weniger ist mehr‘‘ will man fordern – Berg würde mit entlarvender Schnoddrigkeit entgegnen ,,Mehr ist mehr‘‘, genauso wie sie ihren Text im Programmheft mit ,,Vielen Dank für Nichts‘‘ beginnen lässt. Und vielleicht muss man ja auch immer mal wieder etwas aushalten – das Theater soll fordern. Und das tut es in diesem Falle in jederlei Hinsicht.
Fürs Erste ist das Werk im Maxim-Gorki-Theater nicht mehr zu sehen. Allerdings handelt es sich bei dem Theaterstück um den Teil einer Reihe, die Sybille Berg sicherlich fortsetzen wird.
Foto: Ute Langkafel/ MAIFOTO