Was für ein reicher Festspielsommer geht in diesen Wochen zu Ende! Egal ob in Bayreuth, Innsbruck, Erl oder in Salzburg – die Schauspieler sind hier voller Motivation und Lust aufs Spielen und das Publikum, das so lange auf das Wiedererwachen der heißgeliebten Kultur warten musste ist gespannt bis in die Haarspitzen. Die besten Voraussetzungen also für einen großen Klassiker in eindrücklicher Atmosphäre: der ,,Jedermann‘‘ von Hugo von Hofmannsthal vor dem Salzburger Dom. 

„Egal wos auf da Wölt passiert, jedes Joahr is da Jedermann do!“ Diese Zeilen singt der große Helmut Qualtinger in seinem Jedermann-Calypso. Wie Recht hatte er – denn trotz der noch andauernden Nachwehen der Pandemie fand in diesem Jahr die große Neuinszenierung des Festspiel-Heiligtums statt. Dabei war das maskierte Publikum, das Abend für Abend gen Domplatz wallte ganz besonders gespannt auf den Auftritt von Lars Eidinger, der vielen Kulturbegeisterten in Österreich nur als „der Mann mit der Wurst im Po“ bekannt ist und in der neu-aufgelegten Inszenierung von Michael Sturminger den Jedermann verkörpert. 

Der Jedermann – das muss man wissen – ist etwas ganz besonderes für Salzburg, nicht zuletzt, weil Festspielinitiator Max Reinhardt dieses Werk Hofmannsthals schon 1920, also im Gründungsjahr der Festspiele, höchstselbst inszenierte und dieses Werk über die vielen Jahrzehnte auch zu einer Wasserstandsanzeige der deutschsprachigen Schauspielkunst geworden ist. Der Jedermann ist so von Größen wie Will Quadflieg, Klaus Maria Brandauer, Ulrich Tukur und Tobias Moretti gespielt worden und unvergessen bleibt dergleichen Ben Beckers Darstellung des Todes, die von 2009-2012 in Salzburg zu sehen war.

Eidinger gelingt es hier schon von Beginn an diese Rolle vielschichtig zu zeichnen

Alles beginnt mit einer Trias der Spielansager, bei denen man unweigerlich an das Vorspiel auf dem Theater in Goethes Faust erinnert wird. Schon hier fällt auf, dass Regisseur Sturminger konsequent auf den Text Hofmannthals setzt, keine Änderungen zulässt und dabei die feine Ästhetik der intelligent komponierten Reime ganz neu zur Geltung bringt. Es folgt ein Zwiegespräch zwischen Gott und Tod und es fällt gleich auf, dass beide Gestalten von Frauen dargestellt werden. Dabei wirkt insbesondere der liebe Gott, der von einem Holzturm links der Bühne nunter deklamiert fast klapprig – ein fast menschlicher Gott also, der hier dem Tod, seinem Untergebenen (!) befiehlt: „Geh du zu Jedermann / Und zeig in meinem Namen ihm an / Er muß eine Pilgerschaft antreten / Mit dieser Stund und heutigem Tag / Der er sich nit entziehen mag.“ Doch Jedermann denkt überhaupt nicht daran.

Lars Eidinger gelingt es hier schon von Beginn an diese Rolle vielschichtig zu zeichnen. Mit größter Selbstgefälligkeit befiehlt Jedermann nun Essen für ein großes Fest anzurichten und obwohl der Koch sich nachhaltig geriert und vorschlägt, die Reste des Vortages wiederzuverwenden, watscht Jedermann ihn mit den Worten: „Du Esels-Koch bist so vermessen / Soll ich eine Bettlermahlzeit essen?“ ab. Ein Essensverschwender ist dieser Jedermann also. Unweigerlich drängen sich hier einem jeden Assoziationen heutiger Zeit auf und man sieht den Jedermann etwa als unbekehrbaren Umweltsünder, der solange einem hedonistischstem Leben frönend seine Umwelt verpestet, bis er bemerkt, wie angewiesen er eigentlich auf sie ist. Doch vorher folgt eine weitere Schote, die Jedermanns Großmannssucht illustriert. 

Ein Fest der weiblichen Schauspielkunst

Auf dem Weg zur Ablieferung des Geldes für einen eigenen Lustgarten wird er von Bettlern aufgehalten, denen er zwar jeweils eine Münze aus seinem riesigen Goldtopf schenkt, aber nicht ohne vorher den obligatorischen Vortrag über die Sparsamkeit zu halten. Als sich dann aus der Menge der Bettelnden eine Frau löst, die Jedermann anklagt, weil ihr Mann ob seiner Schulden nun im Schuldnerturm sitzt kommt es zu einer kunstvoll inszenierten Szene: Jedermann steigt mit dem Schuldner in einen Boxring um ihn hier nach Leibeskräften zu vermöbeln. Eidinger kommt hier als „bester Faller Deutschlands“, wie er sich einmal bezeichnet hat, ganz auf seine Kosten und es wird insbesondere der Kraft- und Machtunterschied zwischen dem reichen Jedermann und dem armen Schuldknecht deutlich. In dieser Szene macht insbesondere Anna Rieser, die des Schuldknechts Weib darstellt ihre Sache sehr gut. Überhaupt ist Sturmingers Inszenierung – ganz abgesehen von Eidinger – ein Fest der weiblichen Schauspielkunst. Allesamt talentierte Schauspielerinnen, die hier zu sehen sind.

© SF / Matthias Horn

Letzteres gilt auch für Angelika Winkler, die Jedermanns Mutter spielt und dabei mit größter Leidenschaft das Bangen und Bitten einer alten Mutter in Szene setzt. Sie ist die Vernunftgarantin, versucht Jedermann zu bekehren und hofft auf eine baldige Heirat des Sohnes. Es berührt das eigene Herz, wenn man sieht, wie Winklers Darstellung der Mutter – die mit einem wehenden seidenen Überwurf auftritt, der schon einen Hauch Vergänglichkeit mit in die Szene trägt – voller Sorge um den eigenen Sohn ist und hier mahnend ruft: „Willst du den Kopf in den Sand stecken / Und siehst den Tod nit, Jedermann / Der mag allstund dich treten an?“ – Doch, wie sollte man es auch anders erwarten, Jedermann zeigt sich unempfänglich für die Mahnungen der Mutter und letztere bleibt einigermaßen deprimiert zurück.

Mit roten, kurzgeschorenen Haaren wirkt sie nicht so hausmütterlich wie in früheren Inszenierungen

Doch es bleibt nicht bei Winkler als grandiose Schauspielerin, denn nun kommt auch Verena Altenberger als Buhlschaft zu ihrem ersten Auftritt. Ganz in rot und mit kurzgeschorenen Haaren wirkt sie selbstbewusst, selbstbestimmt und nicht so hausmütterlich wie in früheren Inszenierungen. Dass gerade sie, die hier eine in jeder Hinsicht zeitgemäße Konzeption der Rolle vorlegt in diesem Festspielsommer eine Diskussion über ihre Busengröße über sich ergehen lassen musste ist schändlich. Es ist einer der Höhepunkte des Abend, wenn Altenberger sich in ein liebendes Zwiegespräch mit Eidinger versenkt, das just von der herannahenden Feiergesellschaft gestört wird.

© SF / Matthias Horn

Nun kommt es immer doller. Während die Feiernden die Geselligkeit genießen, begegnen Jedermann immer neue visuelle und psychische Störmomente, die sein Schicksal ankündigen. Mal meint er alle Gäste im Totenhemd an seiner langen Tafel sitzen zu sehen, mal will er hören wie sein Name gerufen wird. Hier merkt man, wie Jedermanns Dasein als Hedonist und Narzisst allererster Sorte langsam brüchig wird. Hier gelingt der Kontrast zwischen den Gästen, von denen die meisten als expressionistische, hedonistische und überkandidelte Hanswurste daherkommen und mehr an fette Clowns erinnern als an alles andere und dem immer unruhigeren, oft schon getrieben wirkenden Jedermann exzellent. Während ihm die Gäste raten, ein Lied oder noch mehr Alkohol würde Abhilfe schaffen, wird Jedermann sukzessive bewusst was ihm dräut. 

Es läuft einem kalt den Rücken runter

Wenn Eidinger dann die berühmte Zeile „Nun aber sag um Gott, mein Lieb / Was brennen die Lichter also trüb? / Und wer kommt hinter mir heran? / Auf Erden schreitet so kein Mann.“ deklamiert, ist er schon da. Die Glocken des Doms läuten hinzu und es läuft einem kalt den Rücken runter, ja man meint gar dem eigenen Tod ins Auge blicken zu müssen. Der Tod? Pardon, auch der Tod ist in diesem Jahr eine Frau. Edith Clever ist bleich geschminkt, trägt ein Mysterienkostüm, ganz in schwarz aus undefinierbaren matt-glänzenden Stoffe sowie eine Konstruktion, bald Mütze, bald Gehörn, welches hoch über ihrem Kopf ragt. Ganz plötzlich ist sie da, kommt eine der beiden Treppen, die unter die Bühne führen hinauf und löst mit ihrem Entré die Feiergesellschaft urplötzlich auf.

© SF / Matthias Horn

Wenngleich der unscheinbare und plötzliche, ja fast unbemerkte Auftritt des Todes schlau inszeniert ist – nicht zuletzt, weil der Tod auch im wahren Leben selten mit großer Vorankündigung herbeikommt – vermisst man doch ein wenig den spektakulären Auftritt der vergangenen Jahre, als der Tod noch eine große Freitreppe herunterschritt. Überhaupt gestaltet Clever den Tod hier fast weich, aber keineswegs nachgiebig, ja sie bleibt unerbittlich, wenn sie Jedermann mit den Worten holt: „Von deines Schöpfers Majestät / Bin ich nach dir ausgesandt / Und das in Eil: drum steh ich da.“ Es folgt ein Dialog, in dessen Verlauf Jedermann klar wird, dass er mit Gut und Geld den Tod nicht beeindrucken kann. Allein sein Weinen und Betteln bringt den Tod dazu ihm bis zum Morgengrauen Zeit zu geben sich Geleit für „die lange Reise“ zu verschaffen.

Eine Zartheit, eine Zerbrechlichkeit, die das Bild des Jedermann bestimmt

Was folgt, kann man sich denken: von all‘ seinen „Freunden“ ist keiner bereit, die „Reise“ mit ihm anzutreten. Mal wird er forsch zurückgewiesen, mal wollen ihn seine alten Bekannten überhaupt nicht mehr kennen, sein eigener Vetter lehnt dankend ab und auch die Buhlschaft, wenngleich ein wenig liebevoller, tritt ganz selbstbestimmt von einer Begleitung zurück. Selbst seine Werke, die Verkörperung dessen also, was er zu Lebzeiten zustande brachte sind zu klein und schwach um Jedermann begleiten zu können. So verbleibt dieser ganz alleine. Die Verzweiflung, die Jedermann nun in sich trägt bringt Eidinger wieder fein zum Ausdruck. Es ist nun eine Zartheit, eine Zerbrechlichkeit, die das Bild des Jedermann bestimmt und er tut einem jeden fast leid. Vermutlich erst jetzt schließt sich der Kreis der Erkenntnis bei jenem, der noch vor wenigen Stunden meinte, er könne jeden Zweifel mit Alkohol und kurzfristigen Glück ersticken.

Die Tragik der Szene kommt hier bestens zum Ausdruck, nicht zuletzt, weil die Bühnenbeleuchtung und die Fassade des Salzburger Doms ein eindrückliches Ensemble abgeben. Erst als Jedermann dem Glauben, den Kathleen Morgenayer filigran vorträgt, seine Treue schwört scheint Rettung nah, die auch der nun auftretende Teufel nicht mehr verhindern mag. Dieser kommt durch die Publikumsreihen daher und wird glatt seines Gewandes beraubt, sodass er sich als nackter Hanswurst bald verzieht. Nun ist Jedermann gerettet und ihm wird, weil er Umkehr und Buße getan hat, verziehn‘ sodass er doch noch Einlass in die göttlichen Gefilde findet. 

Doch muss diese Kritik zurücktreten vor der großartigen Inszenierung, die Michael Sturminger hier aufgerichtet hat

Leider wirkt das Ende etwas zäh und man merkt, dass Hofmannsthal eine konkrete Moral vermitteln wollte. Selbstverständlich ist es selig, dass Jedermann schlussendlich Buße tut, Umkehr zeigt und dann auch errettet wird, aber hier und da wirkt alles zu moralingesäuert und schlichtweg nicht mehr zeitgemäß. Doch muss diese Kritik zurücktreten vor der großartigen Inszenierung, die Michael Sturminger hier aufgerichtet hat, sie muss zurücktreten vor der schauspielerischen Leistung eines Eidingers und einer Altenberger sowie einem äußerst talentierten Ensemble. Ja, man versteht, warum der Jedermann ein so gefeiertes Werk ist und wird das Momentum der Selbsterkenntnis, das hier dem Publikum zuteil wurde nicht vergessen.

Als die grandiosen Schauspieler des Abends am Ende ihren Applaus vom Publikum empfangen und sich der ganze Domplatz mit einer immer wieder aufbrandenden Begeisterung füllt, neigt sich meine Sitznachbarin, die Mallorca-gebräunte Haut, kurze Haare mit Strähnchen und ein opulentes Dirndl trägt, zu mir hinüber und bemerkt: „Des hoat ich ja gehofft, dass der Lars Eidinger sich auszieht.“ Tatsächlich steht Eidinger da in seiner strammen orangenen Unterhose da und ist Star des Abends.