Deutschlands wichtigstes Filmfestival ist in der Stadt. Wir berichten für euch aus den Kinosälen! (Hier in komprimierter Version)

© Amanda Matlovich / Headless Films Inc. @Berlinale Stills

(Sektion: Berlinale Special)

SEVEN VEILS

Seven Veils ist ein Operndrama, klar, aber bevor sich der ungeneigte Zuschauende wegdreht: Es ist auch so viel mehr als das. Nicht nur durch ein tolles Set- und Kostümdesign beeindruckt der Film immer wieder, er findet auch vielleicht den ersten eleganten Umgang mit digitalen Medien, was so vielen Filmen immer wieder so schwer fällt. So wird die Maskenbildnerin beispielsweise durch eine TikTok-Serie, in der sie erklärt, wie sie den abgeschlagenen Kopf Jakob des Täufers kreiert, eingeführt: Handwerk und TikTok gleichzeitig und herrlich unpeinlich inszeniert. Bravo!

Jeanine, eigentlich ihres Zeichens Theaterregisseurin, wird gebeten, die Wiederaufführung der Operninszenierung Salome ihres kürzlich verschiedenen „Mentors“ zu leiten. Doch wird mit verstreichender Zeit immer deutlicher, wie geprägt ihr Leben eigentlich von diesem Mann war und wie sie selbst einen traumatischen Bund mit dieser Aufführung und sogar ihrem eigenen Vater geformt hat. So macht sie sich die Geschichte Salomes immer weiter zu eigen, was nicht nur den Vorstand beunruhigt. Denn auch das Ensemble und ihre eigene Familie werden immer weiter in den Sog dieser gewaltigen Geschichte gezogen, sodass die Grenzen zwischen Realität und Stück mehr und mehr verfliegen. Der vorletztes Jahr erschienene Tár hat Ähnliches versucht, wird jedoch hier bei weitem übertroffen. Seven Veils schafft es nicht nur wahnsinnig beeindruckend Trauma und die Arbeit in so großen Produktionen zu beobachten, nein, der Film schafft vor allem eines: Lust auf Oper zu schaffen und zu zeigen, dass diese Kunstform auch ganz persönlich sein kann.

(Lilja Wallrodt)


© NEON @Berlinale Stills

(Sektion: Berlinale Special)

CUCKOO

Eine (vielleicht) kontroverse Meinung: Wer nur Cuckoo auf der Berlinale gesehen hat, hat alles, was so ein Festival ausmachen sollte, mitgenommen und dazu noch einen wahnsinnig unterhaltsamen Abend gehabt. Der deutsche Horror-Genrebeitrag von Tilman Singer hat genau das, wofür die Berlinale so verzweifelt stehen möchte (und wobei sie leider zu oft scheitert): Einen internationalen Cast mit aufsteigenden, aber schon weltbekannten Stars, ein Genre, das leider gerne mit ein paar billigen Jump-Scares abgefrühstückt wird, also Potenzial zum Wachsen hat und das Wichtigste, natürlich, der deutsche Flair – heißt: deutsche Fördergelder.

Denn so, wie der Kuckuck seine Eier in den Nestern anderer Vögel ablegt, wurde hier eine ordentliche Finanzspritze aus Amerika in Deutschland platziert, inklusive Hunter Schäfer als Starbesetzung. Sie spielt ein jugendliches Mädchen, das mit ihrem Vater, der Stiefmutter und deren Tochter – ihrer Stiefschwester – in die Alpen zieht, denn die Eltern haben einen großen Bauauftrag von dem Hotel “Alpenschatten”, in dem sie auch unterkommen, erhalten. Doch irgendetwas ist seltsam: Als Gretchen einen Job im Hotel annimmt, wird sie ermahnt,  nachts ihr Fahrrad nicht mit nach Hause zu nehmen und nicht alleine unterwegs zu sein. Als sie dem natürlich nicht gehorcht, entpuppt sich ihr Weg nach Hause als Horror-Trip, denn sie wird verfolgt…

Ohne Spoiler kann hier nicht mehr erzählt werden. Das würde auch den Sinn dieser Kritik verfehlen, denn der Spaß in diesem Film liegt darin, nie zu wissen, was gleich als nächstes geschieht. Es entfaltet sich eine Geschichte mit SciFi-Anteilen, einer groß aufgezogenen Verschwörung, einem Horror-Trash-Showdown und Schwesternliebe – all das quasi in unserem Vorgarten.

(Lilja Wallrodt)


 

Foto: BRA, TWN, ARG, DEU 2024, Encounters @Berlinale Stills

(Sektion: Encounters)

Dormir de olhos abertos/Sleep with Your Eyes Open: Sich auf Berieselung einlassen

Der Titel ist Programm: Kai, die Protagonistin des Films, kann nie wirklich schlafen. Immer stört sie etwas: eine kaputte Klimaanlage, ein nicht abzuschaltender Fernseher, sonstiger Lärm. Das ist aber schon die einzige Konstante in diesem merkwürdigen Film; es fällt schwer, Elemente zu finden, an denen man sich entlanghangeln kann. Geschweige denn einen Handlungsstrang. Dass Kai Taiwanesin ist und Liebeskummer hat, erschließt sich erst nach Google-Recherche (es könnte aber durchaus sein, dass die Äuglein der Zuschauerin an manchen Stellen, im Kontrast zur Protagonistin, auch mal zugefallen sind). Trotzdem oder gerade auf Grund mangelnder Anhaltspunkte, trägt der Film eine gewisse Komik in sich. Und den Figuren, die sich nicht greifen lassen, ist man nicht abgeneigt – sie sind zart, verletzlich, keineswegs unsympathisch. Die brasilianische Küstenstadt Recife, in der der Film spielt und in die Kai ursprünglich als Urlauberin kommt, soll eigentlich wunderschön sein, das wird hier aber auch überhaupt nicht vermittelt. Ein skurriler Film, der aber nicht partout als schlecht in Erinnerung bleibt.

(Anna Raab)


 

© Nikolaj Moeller @Berlinale Stills

(Sektion: Wettbewerb)

Vogter: Was ist schon gerecht?

Eva Hansen ist eine beliebte Angestellte in einem großen Gefängnis. Sie leitet sogar die Meditations-AG, bei der sie in einem Raum voller Verurteilter seelenruhig die Augen schließen kann. Keiner würde sie angreifen. Als sie beobachtet, wie ein neuer Insasse ankommt, gerät ihr Zen jedoch stark aus dem Gleichgewicht. Sie lässt sich schließlich sogar in den Hochsicherheitstrakt – Midter Nul – versetzen, um diesem dubiosen Gefangenen näher zu sein. Dort erlebt sie einen Alltag voll von hartem Umgangston und roher Gewalt. Wieso sie das tut, würde schon zu viel vorwegnehmen, denn der Film lebt von der Spannung des Ungewissen. In einem 1:1 Format, welches an die Enge einer Zelle erinnert, wird ein Drama inszeniert, das Schuldfragen, Machtmissbrauch und Vergebung gleichermaßen ambivalent behandeln kann. Gerade die Frage, wer in Kontrolle ist, wer sich wirklich frei nennen kann, gibt zu denken. Gibt es Gerechtigkeit und Mitgefühl für jemanden, der schrecklichste Dinge getan hat? Kann man jemandem, der leidet, alles vergeben? Wie leicht ist es, die Sympathien der Zuschauenden zu lenken? Gustav Müller löst hier eine Lawine an Reflektionen aus, an denen man noch lange knabbern kann.

(Lilja Wallrodt)


 

© Shellac / Atlas Film Production @Berlinale Stills

(Sektion: Forum)

Chroniques fidèles survenues au siècle dernier à l’hôpital psychiatrique Blida-Joinville, au temps où le Docteur Frantz Fanon était chef de la cinquième division entre 1953 et 1956 (englische Übersetzung: True Chronicles of the Blida Joinville Psychiatric Hospital in the Last Century, when Dr Frantz Fanon Was Head of the Fifth Ward between 1953 and 1956)

Genau das, was der ausladende Titel beschreibt, zeigt der autofiktionale Film. Einschlägige Momente des französischen, Schwarzen Vordenkers Frantz Fanon, der in den 50ern als Chefarzt der muslimischen Abteilung eines psychiatrischen Klinikums tätig ist, bilden seine humanistische Therapiemethoden und die Stimmung zu Beginn des Algerienkriegs ab. Die goldene Filmregel „Show, don’t tell“ wird von Abdenour Zahzahs Film auf jeden Fall eingehalten: Dass Fanon Teil der Unabhängigkeitsbewegung im Algerienkrieg wird, muss niemand aussprechen. Als seine antikolonialen Werte demonstriert werden und Fanon anschließend mit den Folgen des systematischen Rassismus auf seine muslimischen Patient*innen konfrontiert wird, ist klar, auf welcher Seite der französische Vordenker steht. Wichtig ist aber, sich auf ein paar anschließende Suchanfragen bei Wikipedia einzustellen, um das eigene Wissen zum Algerienkrieg aufzufrischen.

(Lisa Mika)


Bishop Black @Berlinale Stills

(Sektion: Panorama)

The Visitor: Albträume sind vorprogrammiert

Nach 30 Minuten verstört den Saal verlassen – auch das ist eine Berlinale-Erfahrung. Der Film (oder zumindest seine erste halbe Stunde, vielleicht haben wir durch das frühzeitige Gehen ja auch ganz ästhetische Szenen verpasst) ist eine einzige Aneinanderreihung von Bildern, bei deren Anblick sich sämtliche Augenlider automatisch schließen. Und das sicher nicht, weil Nacktheit oder explizite Sexszenen in irgendeiner Weise problematisch wären. Aber Verzeihung, jemandem beim Koten zuzuschauen, um daraufhin eine Suppe aus jener Wurst, Urin und etwas Blut köcheln zu lassen, die (es wird nicht besser) anschließend den Gästen serviert wird, denen wir dann beim genüsslichen Verspeisen zusehen dürfen – ist das Kunst oder kann das weg? Vielleicht sind die (nicht vereinzelten) Zuschauenden, die den Film abgebrochen haben, schlichtweg nicht wissend genug, um den tieferen Sinn hinter diesem Spektakel (nach der Dinner-Szene wurde übrigens auf das Jesus-Bild onaniert) zu erkennen, aber für mich steht fest: Eine konstante Erzeugung von Ekel und Schock ist nicht innovativ. Und mit Hinblick auf das, zumindest zunächst so eingeführte, Thema (schwarzer Geflüchteter strandet in London) auch ziemlich geschmacklos.

(Anna Raab)


 

Sarvnaz Alambeigi @Berlinale Stills

(Sektion: Generation 14plus)

Maydegol: Boxen für ein besseres Leben

Beeindruckende Dokumentation und iranisch-deutsch-französische Koproduktion über eine am Rand der Gesellschaft lebende afghanische Geflüchtete im Iran, die für ihren Traum kämpft. Maydegol ist 19, trägt eine Cap unter ihrem Hidschab und möchte professionelle Muay Thai Boxerin werden. Nicht vieles wäre in ihrer Lage abwegiger, aber auf konventionelle Rollenbilder oder ein bitteres Hinnehmen ihrer – wirklich sehr bitteren – Situation lässt sie sich nicht ein. Entschlossen klammert sich die junge Frau an diesen Sport, finanziert sich das heimliche Training mit kräftezehrenden Gelegenheitsjobs und möchte am liebsten einfach weg.
Häusliche Gewalt steht mit ihrem brutalen Vater auf der Tagesordnung, der wie der Rest der Familie vor den Taliban geflohen ist und nun im Iran ein schwieriges Leben führt. Das bekommt man, abgesehen von Tonaufnahmen über schwarzer Leinwand, allerdings nie direkt zu Gesicht – wie auch, denn vor einem Kamerateam würde wohl auch das aggressivste „Familienoberhaupt“ eine harmonische Fassade aufrechterhalten. Der Film gewährt sehr persönliche Einblicke in den Alltag dieses Mädchens, wofür enorm viel Vertrauen nötig gewesen sein muss.
Ohne viel Kenntnis der Situation afghanischer Geflüchteter im Iran bleibt ein Eindruck der alterstypischen Kämpfe (hier passenderweise im wahrsten Sinne des Wortes!) in der Islamischen Republik und die Einsicht, dass Träume von Selbstentfaltung wohl für viele junge Menschen ähnlich, aber die Hindernisse auf dem Weg es leider nicht sind.

(Pia Wieners)


Foto: Lilja Wallrodt