„Die Wildente“ eines der bekanntesten Werke von Henrik Ibsen, in der Regie von Stefan Kimmig, feierte am 13. Juni 2021 am Deutschen Theater in Berlin Premiere. Eine der ersten Inszenierungen, die nach der erzwungenen Corona-Theaterpause live, im Saal und mit Publikum stattfinden durfte. Die Erwartungen: hoch.

„Welche Medizin ist die Richtige? – Lebenslüge aufrechterhalten“- und doch kommt die Wahrheit immer ans Licht…Geheimnisse, Intrigen, Lügen und Verrat durchziehen menschliche Beziehungen. So spielen sie auch in Ibsens Werk „Die Wildente“ eine zentrale Rolle. Die Familientragödie greift genau diese komplizierten, menschlichen und familiären Verstrickungen auf, die der Hausregisseur des Deutschen Theaters, Stefan Kimmig, offensichtlich ‚untersuchen‘ will, indem er die Figuren in einem laborähnlichen Raum auftreten lässt. 

Der Saal wird dunkel, ein Tuch fällt, die weiße, sterile, mit Neonröhren ausgeleuchtete Bühne kommt zum Vorschein (Bühne: Katja Haß). Hedvig, gespielt von Linn Reusse, läuft behutsam, mit der sich in einem kleinen Glaswagen befindenden, angeschossenen Wildente, über die Bühne. Vielleicht ein Symbol für die Lebenslüge. Ein Jagdgewähr auf ihrem Rücken. Vielleicht eine Anspielung darauf, dass das schwächste, unbedarfteste Glied wie so oft die leidtragende Person des Ganzen sein wird. Das Opfer der Lebenslüge, des Egoismus der älteren Generation…

Von Lebenslüge, Wahrheit und Zerstörung 

Nach vielen Jahren der Abgeschiedenheit in den nordischen Wäldern kehrt Gregers Werle, in Kimmigs Inszenierung Gerdis Werle, eine Frau, in ihren Heimatort zurück. Die schon immer miteinander verwobenen Biografien der Familie Werle und der Familie Ekdal sind von Intrigen, Lügen und Verrat gezeichnet. Stefan Kimmig lässt in seiner Inszenierung die beiden alten Ekdal und Werle nicht auftreten und schafft damit mehr Raum für einige andere Charaktere.

Gerdis Werle (Anja Schneider) trifft bei ihrer Rückkehr auf ihren alten Freund Hjalmar Ekdal (Paul Grill). Er ist unterdessen mit Gina Hansen (Judith Hofmann), dem ehemaligen Hausmädchen der Werles verheiratet und hat mit ihr eine gemeinsame Tochter Hedvig (Linn Reusse). 

Gerdis gibt ihrem Vater die Schuld am Tod ihrer Mutter und der Gefängnisstrafe seines ehemaligen Geschäftspartners Ekdal. Mit dem Anspruch, die Wahrheit ans Licht zu bringen und ihrem alten Freund Hjalmar die Augen zu öffnen und ihm zu einer „wahren Ehe“ zu verhelfen, zieht Gerdis bei ihnen ein und zerstört das über die Jahre errichtete Lügenkonstrukt. Sie enthüllt das ehemalige Verhältnis zwischen Gina Hansen und dem alten Werle, was die Frage aufwirft, wer Hedvigs biologischer Vater ist. Es bleibt ungeklärt. Hjalmars Leben ist damit zerstört, er will von seiner Tochter nichts mehr wissen. Paul Grill als Hjalmar lässt Hedvig seine Abneigung spüren, indem er sie nicht mehr anschaut, wütend anbrüllt und ihr aus dem Weg geht. Zerbrochen daran und in tiefer Liebe opfert sich Hedvig für ihn. Linn Reusse steht völlig aufgelöst und verzweifelt auf der Bühne und bringt unter Tränen hervor, dass sie alles für ihren Vater tun würde… Sie geht ab, ein Schuss fällt. 

Fehlende Spannung und Tiefe 

Die Idee des Regisseurs, die Schauspieler*innen und ihre Charaktere, jede*r Einzelne als gefangene Wildente, in einem Labor aufeinandertreffen und miteinander ‚operieren’ zu lassen, bietet eine interessante und vielversprechende Herangehensweise an Ibsens Familientragödie. Ein interpretationsreiches, emotionsgeladenes, noch immer aktuelles Stück, was die Figuren an den Rand ihrer Existenz, an Abgründe treiben lassen sollte. Die Betonung liegt hier leider auf sollte, da die Umsetzung dieses Dramas nicht so ganz gelingen will – Er ‚kratzt‘ lediglich an den familiären und gesellschaftlichen Abgründen dieser Tragödie. Kimmig lässt seinen Darsteller*innen viel Raum, ihre lobenswerten, schauspielerischen Variationen auszuleben, was jedoch zu sehr von der eigentlichen Problematik des Stückes ablenkt. Ein konkreter, noch vertiefender Fokus auf den dramatischen Inhalt wäre hier angemessener gewesen. Der Abend wirkt dadurch etwas zäh und nimmt der Tragödie ihre Spannung und Tiefe. 

Gregers wird zu Gerdis 

Den männlichen Protagonisten Gregers mit der Protagonistin Gerdis Werle zu ersetzen und die beiden ehemaligen Geschäftspartner Ekdal und Werle nicht auftreten zu lassen, setzt ein entscheidendes Zeichen. Der Regisseur verfolgte damit das Ziel die Figuren der Frauen, die in der Originalfassung von Ibsen eher eine Nebenrolle spielen und den Konflikt einer Tochter mit ihrem Vater, stärker hervorzuheben. „Dieser Kampf einer Tochter mit der Vergangenheit um eine Zukunft hat für mich die größere Dringlichkeit.“ (Interview von John von Düffel mit Stefan Kimmig). Ein wirklich gelungener Einfall. 

Insgesamt wirkt es aber eher so, als sei der Regisseur zurückhaltend und zu vorsichtig mit den Inhalten umgegangen, wodurch der unbedingt notwendige Zustand fehlt, die Figuren an ihre äußersten Grenzen zu treiben, es existenziell werden zu lassen. 

 

Die Wildente

von Henrik Ibsen

Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Michael Verhovec, Licht: Robert Grauel, Dramaturgie: John von Düffel.

Mit: Anja Schneider, Paul Grill, Judith Hofmann, Linn Reusse, Peter René Lüdicke.

Premiere am 13. Juni 2021

Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Der Spielplan des Deutsches Theaters ist auf deren Website einzusehen.

https://www.deutschestheater.de/programm/spielplan/