Das Stück ,,Kunst‘‘ von Yasmin Reza feierte schon am 31.12.2017 im Berliner Ensemble seine Premiere. Das Theater am Schiffbauerdamm zeigt es immer noch. Das kommt nicht von ungefähr – und doch: hat ein kontemporäres Stück nach vier Jahren nicht schon vollkommen an Aktualität verloren?

Seitdem ich in Berlin wohne – und das sind schon einige Tage – habe ich mir vorgenommen das Bühnenwerk ,,Kunst‘‘ im Berliner Ensemble zu sehen. Immer wieder kam etwas dazwischen und die Monate der Pandemie hatten mich das Werk mit dem bestechend kurzen Titel schon völlig vergessen lassen, als letzterer mir bei der Lektüre der aktuellen Spielpläne wieder entgegen sprang. Die Idee, dass es sich hierbei um ein sehenswertes Stück handeln könnte, wurzelte nicht nur in meiner innigen aber laienhaften Liebe zur Kunst, sondern auch in einer anderen Leidenschaft meiner: ich bin ein Freund des Streits. Zivilisiert ausgetragen und geführt von zwei Menschen, denen es auf Erörterung und Lösung einer konkreten Problematik ankommt, kann ein Streit ein Fest sein – andernfalls ist er eine Qual. Doch was hat das mit besagtem Stück zu tun? Nun, bei Reza wird herzhaft gestritten – und (wie könnte es anders sein?) über Kunst.

Weiße Streifen auf weißem Grund

Der Rahmen des Streites ist einfach: drei Freunde mittleren Alters verschiedenen Charakters geraten in einen Dissens über eine Investition ihres Freundes Serges, den Martin Rentzsch verkörpert. Dieser wohnt nicht nur in einer minimalistischen Wohnung und trägt einen extravaganten Pullunder sondern hat sich für ganze 100.000 € ein Gemälde gekauft. Daran ist fürs Erste ja nichts zu beanstanden und wer dieser Tage den Ratschlägen der Anlageberater in den Sparkassen der Republik folgt wird immer wieder hören, die Deutschen investierten zu wenig in Sachwerte. Doch Serges Sachwert ist ein ganz spezieller. Sein Gemälde zeigt weiße Streifen auf weißem Grund. Dann geht alles ganz schnell und es ist wie in vielen Beziehungen: wenn es einen tiefer liegenden Konflikt gibt, genügt manchmal sehr wenig oder sogar nichts um einen Streit zu entfachen.

Mann hinter Leinwand
Serge sorgt mit seiner neusten Investition für jede Menge Konfliktpotential. Copyright: Birgit Hupfeld

Und in diesem Konflikt stehen sich nun auch noch drei ganz grundverschiedene Charaktere gegenüber. Auf der einen Seite der Arena ist Serges Freund Marc – ein Konservativer und ,,homme classique‘‘, der jede Veränderung mit Argusaugen betrachtend eine Krawatte mit Paisley-Muster trägt und das Bild schlichtweg für ,,Scheiße‘‘ hält. Nun könnte man meinen, dass die logische theatertheoretische Schlussfolgerung eine Figur wäre, die dominant die Gegenmeinung zu Marcs Kulturpessimismus vertritt. Doch, es kommt ganz anders. Der Dritte im Bunde ist Yvan (gespielt von Sascha Nathan), der den Zeitgeist insofern verkörpert, als dass er schlichtweg keine Meinung hat. Weder der Kaufpreis, noch der Umstand, dass es sich bei dem Gemälde um eine weiße Fläche handelt, kann ihn aufbringen – ihn, der sowieso viel zu sehr mit seinen Hochzeitsvorbereitungen befasst ist und im Begriff ist eine hysterische Frau zu heiraten. Auch Marc ist fast zurückhaltend – versucht seinen Kauf zu erklären, berichtet von der Begeisterung über das monochrome Meisterwerk und involviert Serge sogar, als es darum geht, wo in Marcs Wohnung das Werk hängen soll. Letzterer zeigt sich ungläubig, glaubt an einen Scherz und versteht die Welt nicht.

Marc auf dem Sitzsack
Marc ist nicht nur mit dem Kunstgeschmack seines Freundes unzufrieden. Copyright: Birgit Hupfeld

Freundschaften auf der Waagschale

Dabei werden entlang der Konfliktlinien zwei ganz eminente soziologische Problemstellungen deutlich. Einerseits treffen hier dreierlei völlig verschiedene Konzepte von Freundschaft aufeinander und andererseits ist insbesondere dem ewig kritischen Marc die Fähigkeit zu Humor, (Selbst-) Ironie und Lachen im Kampfe um die Rezeption des Kunstwerkes völlig verloren gegangen. Die Protagonisten akzeptieren weder, dass jeder Mensch einen unterschiedlichen Kunstbegriff vertritt, noch, dass es Menschen gibt, die überhaupt keinen festgelegten Kunstbegriff vertreten und es wird auch nicht akzeptiert, dass sich manche Konflikte nicht lösen lassen.

All‘ das lässt einen immer wieder an das Watzlawick’sche Vier-Ohren-Modell denken, mit dem schon Gymnasiasten im Stande sind die festgefahrenen Kommunikationsmuster ihrer Eltern zu entlarven. Denn, es geht hier nicht um die Sachfrage, ob es sich hier um Kunst handelt (Informationsebene) sondern (auch) um die Beziehung zwischen den Freunden. Serge empfindet Marc als besserwisserisch, der seine modernen Haltungen zu sehr zelebriert und Yvan offenbart immer wieder, dass er in seinem Leben völlig andere Probleme (Hochzeit, hysterische Frau, Beruf etc.) zu lösen hat. Dazu kommen die Konzeptionen von Freundschaft, die hier völlig unterschiedlich gestaltet ganz diametral zueinander stehen und in den Diskussionen ihren Ausdruck finden. Serge etwa, sieht die Zeit der Freundschaft in der Zeit ,,als du die Dinge nach meiner Elle gemessen hast‘‘. Er lebt mit einem typisch Montaigne’schen Freundschaftsverständnis, das auf Abgrenzung zu allem Fremden und Reproduktion der eigenen Ansichten in Form des Freundes als ,,alter Ego‘‘ setzt. Marc aber sucht nach Diskussion und Yvan nach Problemlösung sowie Ablenkung von den Alltagsproblemen.

Das Theater hat seine Aufgabe erfüllt

Was im Verlaufe des Stückes immer mehr auffällt: Es war eine französische Feder, die dieses Bühnenstück danieder schrieb. Zwischen den Reihen hört man es murmeln, es sei wie immer am französischen Theater – mehrere Menschen in einem Raum und am Ende brüllen sich alle an. Wenngleich überspitzt, trifft diese Behauptung sicherlich den Punkt. Ein schöner Nebeneffekt des Theaterabends ist zudem, dass nach Ende der Vorstellung im Publikum auch immer wieder die Frage diskutiert wird, ob es sich bei Yasmin Rezas Werk „Kunst“ nun um Kunst handele oder nicht. Nur eine von vielen Diskussionen, die dieses Bühnenstück anstößt.

Doch dürfen wir es nicht nur bei der Bewertung des Inhalts belassen, sondern müssen auch auf die reine schauspielerische Umsetzung jenes Inhalts zu sprechen kommen. Hier bilden Michael, Martin Rentzsch und Sascha Nathan ein gelungenes Trio und brillieren jeder auf seine ganz eigene Weise.

Mann mit Glas vor schwarzer Wand
Yvan hat keine Meinung und sitzt zwischen den Stühlen. Copyright: Birgit Hupfeld

Auch das minimalistische Bühnenbild ist zu loben und die Kostüme, für die Elina Schnizler verantwortlich gezeichnet hat, leisten ihren Beitrag, wenn etwa der völlig indifferente Yvan auch genauso aussieht, wie er argumentiert: mit viel zu kurzer Krawatte und zu dickem Bauch sowie angetan mit einem kurzärmligen Hemd. Nun, wer sich so kleidet, zeigt ganz deutlich, dass er keinen Streit gewinnen will – ja er ist ein Ritter, der ohne Rüstung in den Kampf zieht.

Spiel mit Ironie und Ernsthaftigkeit

Es wird hier also ein Stück gezeigt, dass nicht nur gekonnt mit Ernsthaftigkeit und Ironie spielt, sondern das leistet, was Theater zur Aufgabe hat: das Besprechen gegenwärtiger gesellschaftlicher Probleme. Hier ist es die Verhärtung von Meinungsfronten sowie das Aussterben einer zivilisierten Konfliktkultur, die andere Meinungen anerkennt und schätzt anstatt sie (wie dieser Tage üblich) niedermäht und zerfetzt. Es wird einer Gesellschaft der Spiegel vorgehalten, die verlernt hat, über sich selber zu lachen und die nicht nur ihre Konfliktkultur, sondern auch die Kultur des Humors auf dem Altar der Überempfindlichkeit opfert. ,,Kunst’’ ist eine Persiflage auf eine Gesellschaft, die sich auch heute noch in Schwarz-weiß-Denken verloren hat und in der kontemporäre politische Fragen ganze Familien spalten. Wie viele Konflikte ließen sich lösen, wenn man sich aus der Starre der Verbissenheit löste, die Gegenansicht akzeptierte und gemeinsam lachte? Was könnten wir erreichen, wenn wir uns alle auf einen ehrlichen, wertschätzenden und empathischen Diskurs einließen ohne sich von Vorverurteilungen in die gesellschaftliche Sprachlosigkeit zu manövrieren? Reza macht es vor.


In diesem Jahr wird ,,Kunst‘‘ im Berliner Ensemble noch am 17.12.2021 gespielt. Karten sind u.a. im Webshop des Berliner Ensembles zu haben. Es ist zudem davon auszugehen, dass in der laufenden Spielzeit 2021/22 das Stück noch mehrfach auf die Bühne gebracht wird.

Foto: Birgit Hupfeld