Unser Kolumnist war schon als Kind begeistert von den Goldenen Zwanzigern in Berlin. Hundert Jahre später macht er sich auf die Suche nach den Überbleibseln der Varieté-Kultur und wird fündig. Eine etwas andere Kulturkolumne über drei ganz verschiedene Varieté-Theater.

Schon Jahre bevor es mich nach Berlin zog, hat mich diese, unsere Stadt sehr fasziniert. Ich hatte mich schon im zarten Alter von zehn Jahren begonnen, für die zwanziger Jahre zu interessieren, und werde nie vergessen, wie es im Buch ,,Artisten’’ von Fred A. Colman über eben jene Zeit in Bezug auf Berlin hieß: ,,An der Spitze steht Berlin mit dem ersten festen Varietégebäude, der alten Walhalla, in der sich viele nachmals bedeutende Aritisten ihre ersten Lorbeeren verdient haben. Mit der Zeit wurden in Berlin zwischen 70 und 80 Varietés errichtet. […] Ihr Ruhm drang in alle Welt.‘‘ Dazu war mein Vater stets ein ausgesprochen großer Freund des Zirkuswesens und ich erinnere mich gut daran, wie er mir die Bilder der Berliner Varietés zeigte. Noch lange sind die magisch wirkenden Namen aus einer längst vergangenen Zeit in meinem Kopfe nachgeklungen und haben mich nie wirklich losgelassen. Heute ist Berlin zwar die Stadt mit den drei Opernhäusern, aber was – das habe ich mich gefragt – ist aus den Varieté-Theatern von einst geworden? Wo ist das Scala? Das Walhalla? Und gibt es das berühmte American-Theater noch?
Tatsächlich haben sich einige Varietés über die Zeit retten können, oft mit wechselvoller Geschichte – aber, es gibt sie noch. Drei von ihnen habe ich besucht.


Alte Frauen mit Federboa

Einen ganz großer Name der alten Zeit hat bis heute überlebt. An der Potsdamer Straße residiert in den alten Räumlichkeiten des Varietés ,,Quartier Latin‘‘, das es heut nicht mehr gibt, das ,,Wintergarten Varieté‘‘. Es ist hier gewissermaßen ,,im Exil‘‘, denn gegründet wurde das erste Wintergarten Varieté im vorletzten Jahrhundert an der Friedrichstraße und war im Kaiserreich das berühmteste Nummerntheater Deutschlands. In den 1920er Jahren traten hier Kapazitäten wie die Sängerin Claire Waldhoff und Otto Reuter aus. Mit über 3000 Sitzen war es damals das modernste Theater Europas – bis zum Krieg und zur Zerstörung. Nach dem Weltkrieg fast vergessen versuchten sich zwischen 1992-2009 und nach dem Umzug an den heutigen Standort die Roncalli-Schöpfer André Heller und Bernhard Paul mit ihrem Varieté-Konzept hier, seit 2009 wird der Wintergarten von einer GmbH betrieben. Und der Glanz vergangener Zeiten ist noch nicht ganz passé.

Wintergarten Varieté, Potsdamer Str. 96, 10785 Berlin. Foto: privat

Die Fassade ist beleuchtet, am Eingang nehmen einen uniformierte Kartenabreißer in Empfang und man schreitet auf roten Samtteppichen in den 500 Zuschauer*innen fassenden Saal, um sich an feinen Tischen niederzulassen und bei teuren Getränken der Show des Abends zuzusehen. Dabei versprühen Name, Ort und Rahmen einen ganz eigenes Esprit und auch die Vorstellung hat ihren Reiz. Es werden (je nach Abendprogramm) bunte Lieder geboten, in diesen Tagen auch immer wieder mit 20er-Jahre-Bezug, und eine Bühnenkapelle spielt reichlich flott, ja – die ein oder andere Melodie kennt man sogar von Omas Comedian-Harmonists-Platte. Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier wahrscheinlich doch mehr Schein als Sein ist. Die Gäste und Gästinnen sind vorwiegend ausländische Touristen und Touristinnen, die sich wahrscheinlich eine authentische Zeitreise in die 1920er versprochen haben. Mir gegenüber sitzt eine alte Dame, die vermutlich Gisela heißt und die sich eine schwarze Federboa umgeworfen hat, während ihr Gatte Eugen schon vor Beginn der Vorführung drei große Weizen zu sich genommen hat. Es ist ein ungewöhnliches Gefühl. Einerseits bin ich ganz angetan von diesem Theater, hier und da beschwingt von der Show und möchte keinesfalls, dass der Laden schließt – und trotzdem ist es eher ein einmaliges Erlebnis, etwas, was ich ,,abhakt‘‘ und nicht ohne weiteres empfehlen mag.


Eine Hommage an das Kind in einem und einer jeden

Varietés sind schon immer eng mit den reisenden Zirkussen verwandt gewesen, insbesondere weil Akrobatik-Nummern zum Kernprogramm der Varietés gehörten und gehören. Doch auch der Zirkus und die Zirkuskultur entwickeln sich stetig fort und so hat sich in den letzten zwanzig Jahren eine neue Form des Zirkus herausgemendelt, die ,,Cirque nouveau‘‘ genannt wird und in Berlin im Chamäleon-Theater in den Hackeschen Höfen ihre Heimat findet. Die Idee des ,,Cirque nouveau‘‘ ist es, mittels Akrobatik eine eigene Geschichte zu erzählen, anstatt das Publikum nur einfältig zu belustigen. Professionelle Tänzer*innen statt Zirkusfamilien und meist feste Säle an Stelle von Zirkuszelten. Diesen festen Saal bietet das Chamäleon-Theater, das meist zu Unrecht unbeachtet im ersten Hofe der Hacke’schen Höfe liegt. Einst Probenort des DDR-Fernsehballetts ist es heute eins der charmantesten Kulturorte der Stadt, ein Geheimtipp der Szene und wurde von der Berliner Morgenpost unlängst sehr zu Recht als ,,einzigartig in der deutschen Theater- und Varietészene‘‘ bezeichnet.

Chamäleon-Theater, Rosenthaler Str. 40/41, 10178 Berlin. Foto: privat

In dem Saal des Theaters finden fast 350 Zuschauende Platz und während der Vorstellung kann gespeist werden, wenn man nicht gerade ganz gebannt den Vorführung der immer wechselnden Artistengruppen folgt. Intendantin Anke Politz pflegt nämlich kein eigenes Ensemble, sondern lädt Kompagnien aus der ganzen Welt ein. Im letzten Herbst etwa gastierten Australier*innen, in der aktuellen Produktion ,,Elephant in the Room‘‘ ist eine französische Kompagnie zu Gast. Ein Besuch im Chamäleon-Theater ist ein Garant für einen bereichernden Abend. Es ist anregend zu sehen, es ist eine Hommage an das Kind in einem und in einer jeden, das einst so gebannt den Tricks der Zirkusartisten folgte und eigentlich immer Sehnsucht nach dieser Zirkuskunst verspürte. Gerade weil es anders ist als Oper und Theater, weil es modern daherkommt ohne bedeutungslos zu sein, gerade deswegen lohnt sich der Besuch im Chamäleon-Theater sehr.


Das Unscheinbarste ist oft das Schönste

Das Unscheinbarste ist oft das Schönste und ,,Weniger ist mehr‘‘ – das gilt auch für die Varietés in Berlin. An der Monumentenstraße zwischen Kreuzberg und Schöneberg liegt völlig unscheinbar das ,,Scheinbar Varieté‘‘. Tagsüber deutet nur die Bemalung an der Fassade darauf hin, was hier stattfindet, wenn die Sonne hinter dem Teufelsberg verschwunden ist. Es handelt sich hierbei immerhin um das kleinste Varieté Deutschlands, der Spiegel schrieb über dieses Theater einst, es sei ein ,,Laboratorium neuer Artistik‘‘ und ganz anders als der Wintergarten und das Chamäleon ist die Scheinbar noch gar nicht so alt. Im Jahre 1984 von den angehenden Artisten Stefan Linne und Irmtraud Spiegel aus der Taufe gehoben, wird hier an mindestens vier Tagen in der Woche auf der drei Quadratmeter großen Bühne feinste Kleinkunst serviert. Im Publikumsbereich finden etwa 12 Menschen Platz und es zeigt sich ein bunt durchmischtes Publikum aus Alt-68ern, Berliner Boheme und Studierenden aus dem Poetry-Slam-Milieu. Männer mit Bärten und Schiebermützen servieren von der winzigen Bar aus Weißwein und Snacks und wenn sich der Vorhang öffnet, beginnt ein Abend, der so bunt wie nirgends ist. In der Scheinbar – das ist fester Bestandteil des Konzeptes – wird nämlich neben festen Programmpunkten, immer wieder auch eine ,,Offene Bühne’’ organisiert. Kurze Voranmeldung genügt und dann finden dort Menschen statt, die auf dem Weg zum Durchbruch sind. Da kommt es vor, dass man laut auflachen muss, weil tatsächlich ganz großartige Nummern gebracht werden – nachvollziehbar, warum etwa Kurt Krömer oder Eckhard von Hirschhausen von dieser Bühne aus Weltruhm erlangt haben.

Scheinbar Varieté, Monumentenstraße 9, 10829 Berlin. Foto: Max Zerrahn

Es passiert aber auch immer wieder, dass man dem schlechtfrisierten Gymnasiasten mit seinen mittelmäßig funktionierenden Zaubertricks eher ein anderes Betätigungsfeld anraten möchte. Das bleibt dann aber auch nicht unkommentiert und freche Schnauzen fordern aus den letzten Reihen die nächste Nummer. Und trotzdem hat die Scheinbar ihre ganz eigene Magie, die man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte. Es ist so anders als die großen Bühnen und deswegen so reizvoll. Wer die Scheinbar besucht, erlebt ein lebhaftes Stück Berlin und es sind Abende in Gesellschaft wie dieser, die das Herz höher schlagen lassen – dann weiß man wieder ein bisschen mehr, warum man sich in diese Stadt verliebt hat.


Kurzum,

es gibt sie noch, die Berliner Varietés. Anders als einst, ohne versenkbare Bühnen und wunderliche und zwielichtige Gestalten, aber immer noch mit viel Liebe und Geist. Das Varieté lebt und man sollte es sich nicht entgehen lassen, von dieser wunderlichen Kunst zu kosten.


Foto: Max Zerrahn