Agnes ist 23 Jahre alt. Als Kind saß sie auf dem Traktor, heute studiert sie Agrarmanagement. Eines Tages möchte sie den Biohof ihrer Familie übernehmen

80 Legehennen stürmen auf Agnes zu, als sie die Tür des dunkelgrünen Bauwagens öffnet. Mit ihrer pinken Bommelmütze, der schwarzen Regenhose und einer etwas zu großen Trainingsjacke steht sie auf dem Feld und wirft Brotkrumen auf den noch feuchten Ackerboden. Da ist der Hahn Goliath, dessen schwarzes Gefieder in der Morgensonne glänzt. Und die anderen Hennen, die um das Brot kämpfen. Abseits des großen Gackerns und Krähens steht ein kleines, weißes Huhn am Zaun. Sein Gefieder ist löchrig, an einzelnen Stellen ist die nackte Haut zu sehen. Agnes hält den Zaun hoch, das kleine Huhn flüchtet. „Es wird von den anderen Hennen angegriffen, weil es weiß ist“, sagt sie. Deshalb legt es seine Eier immer bei den Ziegen.

Agnes Weller ist 23 Jahre alt und Landwirtin. Aufgewachsen ist sie auf einem Bio-Bauernhof in Bergkirchen, Münchener Speckgürtel. In ihrer Kindheit ist sie mit dem Traktor, den sie Bulldog nennt, auf Feldwegen gefahren. Heute studiert sie Agrarmanagement im Master, an der Hochschule in Weihenstephan. Sie schreibt gerade ihre Masterarbeit über die Zusammensetzung von Tierfutter und wohnt noch zuhause auf dem Hof, in dem drei Generationen zusammenleben. Ihre Geschwister Jakob und Fanni studieren Elektrotechnik und Arbeitsmarktmanagement. Der Bauernhof, das ist Agnes’ Welt.

Früh gelernt, mit anzupacken

Lila und Augusta sind ganz aufgeregt, als sie Agnes mit ihrem großen Schubkarren voller Brot sehen. Sie laufen langsam auf sie zu, begrüßen sie in schrillem Ton und fressen ihr aus der Hand. Lila und Augusta sind Ziegen. Agnes hat sie während eines Praktikums in Österreich mit der Flasche großgezogen und dann mitgenommen. Mit einem blauen Eimer füllt sie vorsichtig den Futtertrog auf. Jedes Mal zieht sie dafür um 8 und 16 Uhr los, egal ob es stürmt oder schneit. Im Hintergrund scheppert es plötzlich, der Hofhund Nelly hat den Eimer umgeworfen, überall liegt Brot. „Nelly, schau, wos fia a Sauerei du gemacht hosd“, sagt Agnes. Das Brot lässt sie liegen. Ihr Onkel stellt Biobrot her, das verwendet sie für alle Tiere: „Wir sind ja ein Biohof“, sagt sie. „Die Schweine sind am Montag zum Metzger gegangen“, sagt sie. Ihre Puten, Masthähnchen, Enten und Gänse schlachtet die Familie selbst.

Am Eingang des Schlachthauses zeigt Agnes auf ein großes Fass. „Hier werden die Tiere umgebracht“, erklärt sie. „Wir haben eine elektrische Betäubungszange, mit der wir das Tier betäuben, bevor wir es töten“, fügt sie hinzu. Dann wird es in Brüher und Rupfmaschine bearbeitet. In der Schlachtkammer direkt neben dem Kühlraum wird das Geflügel ausgenommen. In Schlachtwochen werden die Tiere um 5:30 Uhr eingefangen, wenn sie noch schlafen.

In der Küche kocht Agnes’ Mutter das Mittagessen. Es riecht nach frischer Wurst, an den Wänden hängen Familienbilder. Agnes sitzt mit ihrem Vater am Esstisch. Sie hat ihre Trainingsjacke abgelegt, ohne Mütze kommen ihre blonden Haare zum Vorschein. Sie erinnert sich nicht wirklich an besondere Beziehungen zu den Tieren. Nur an eine blinde Ente, die sie immer zum Futtertrog tragen musste, weil sie nichts sah. „Du musst irgendwann loslassen, es ist schon sehr persönlich“, ruft Mutter Christine Weller aus der Küche. „An sich bin ich da eher rational, die sind ja zum Vermarkten und für die Fleischproduktion und so sehe ich sie auch“, sagt Agnes. Die Wellers verkaufen ihre Erzeugnisse nur im Hofladen: Fleisch, Eier und selbstgemachte Nudeln.

Wie es nach dem Studium weitergehen soll – das weiß Agnes noch nicht. Sie möchte ihre Masterarbeit schreiben und dann andere Bereiche in der Landwirtschaft entdecken: etwas mit Tieren, Hauptsache kein Bürojob. Ihre langfristige Zukunft sieht sie aber auf dem Hof der Familie. Agnes möchte ihn eines Tages übernehmen. Der Hof dürfe nicht aufgegeben werden, nur weil er klein ist. Vielleicht möchte Agnes den Betrieb sogar vergrößern. Neue Tiere produzieren, wie sie es nennt.

Holger Wellers Augen leuchten auf, wenn seine Tochter von ihrem Traum spricht. „Das wäre der größte Wunsch, dass der Hof halt weitergeht, weil man das ganze Leben auf diesen Hof ausgerichtet hat“, sagt er. „Ja, aber für Agnes ist es auch wichtig, dass ihr Partner mitmacht, man kann sowas nicht alleine machen“, ruft Christine Weller aus der Küche. Diese Entscheidung, entgegnet Holger Weller, müsse Agnes selbst treffen.

Bereits in ihrer Kindheit war für Agnes klar: Sie möchte Landwirtin werden. „Zum ersten Mal mit dem Bulldog die Wiese walzen, das war ein Erlebnis“, sagt sie. Sie hat früh gelernt, früh angepackt. Holger Weller erinnert sich: „Du wirst tagtäglich mit der Landwirtschaft konfrontiert, vom ersten Lebenstag an.“ Das fand Agnes so spannend, dass sie nach dem Abitur ihre Entscheidung fällte. Eine Lehre wollte sie nicht machen, also ging sie an die Hochschule. Um später bessere Chancen zu haben und mehr zu lernen. „Man ist sein eigener Herr, kann sich seine Arbeitszeit einteilen und es macht mir auch total viel Spaß“, sagt sie über den Beruf. In ihrem blauen Sweatshirt wirkt sie wie eine ganz normale Studentin. Doch wenn sie nach Herdenmanagement-Vorlesungen und BWL-Seminaren nach Hause kommt, schaut sie nicht Netflix, sondern geht die Schweine füttern.

In ihrer Freizeit ist sie im örtlichen Burschenverein aktiv, stellt dort Maibäume auf und schmückt Faschingswägen. Bei der Feuerwehr ist sie auch. „Ich wollte nie ein Auslandssemester machen oder nach dem Abi um die Welt reisen“, sagt sie und schweigt. Weg vom Hof? Vielleicht übergangsweise. Weg aus Bergkirchen? Niemals. Agnes’ Partner wohnt im Ort und hat sich gerade selbstständig gemacht: Installateur und Heizungsbau, 40-Stunden-Woche. Er hat während des letzten Familienurlaubs auf dem Hof die Stellung gehalten. „Aber hauptberuflich möchte er das definitiv nicht machen“,

Mehr Verständnis für die Landwirtschaft

Agnes spricht sehr langsam und bedacht, manchmal schweigt sie. Für die Zukunft wünscht sie sich mehr Wertschätzung für die Landwirtschaft. Jeder behaupte von sich Tierschutzexperte zu sein, aber sei gleichzeitig so weit weg von der Urproduktion, sagt sie. „In keinem anderen Land wird so auf den Preis von Lebensmitteln geachtet wie in Deutschland“, ergänzt Holger Weller. Ernährung habe einen niedrigen Stellenwert. Der Wunsch nach billigen Lebensmitteln verursache Massentierhaltung und Hofsterben. Agnes hingegen habe jedes einzelne Tier, das über die Theke geht, mit ihrer Familie aufgezogen.

„Wenn man sieht, wie gut es den Tieren geht, wenn sie draußen sind, ist das eine Lebenseinstellung“, sagt Agnes. Digitalisierung? Ja, das hat sie im Studium gelernt und besprochen. „Systeme erleichtern zwar die Arbeit, aber die Landwirte müssen trotzdem selbst in den Stall gehen und die Tiere kennen“, sagt Agnes. Sie hat einen Wunsch: Der Stadtbevölkerung die Landwirtschaft näherbringen. Sie aber denen überlassen, die eine Ahnung davon haben. „Man muss aufklären, aber es muss auch Verständnis von der anderen Seite kommen“, sagt sie.

Agnes steht auf, zieht ihre Jacke an, greift zu ihrer Mütze und schlüpft in die schwarzen Stiefel. Sie steigt vorsichtig die Treppen herab, Hund Nelly folgt ihr hechelnd. Augusta steht am Zaun und wartet. Agnes streichelt sie und füttert sie mit einem Brotstück, das noch auf dem Boden lag. Die Ziege meckert zufrieden, hinter der Tür blickt das kleine weiße Huhn hervor.

 

Dieser Artikel ist in der 250. Jubiläumsausgabe der UnAufgefordert erschienen. Hier ist die Ausgabe online zu lesen!