Hysterie hat viele Bedeutungen, aber ist vor allem eines: weiblich. Warum wir den Begriff zumindest auch für cholerische Ehemänner und fanatische Fußballfans verwenden sollten. 

Angespannte Stimmung vor dem Familienurlaub, alles muss schnell gehen, der Koffer platzt aus allen Nähten, die Kinder quengeln und wo lag nochmal der Personalausweis? Gut, dass die Mutter alles im Griff hat, zwar steht sie kurz vor dem Nervenzusammenbruch, aber so ein bisschen Hysterie vor der Reise gehört wohl dazu. Wo Hysterie vermutlich auch dazu gehört: bei jungen Mädchen auf Pop-Konzerten. Sie kreischen und hyperventilieren. Ihre Aufregung ist hörbar, spürbar – ein tosendes Konzentrat an Hysterie, das in der Masse fast schon ein bisschen verrückt, gar bedrohlich klingt.

Hysterie hat viele Bedeutungen, aber ist vor allem eines: weiblich. Der Begriff entstammt dem Altgriechischen („hystéra“) und bedeutet übersetzt „Gebärmutter“, oder besser – auch hier lässt sich begrifflich aufräumen, denn Frauen existieren tatsächlich nicht nur, um Leben zu gebären – „Uterus“. Als medizinische Diagnose wird der Begriff der Hysterie nicht mehr verwendet, die Problematik hinter der Wortbedeutung wurde zumindest in diesem Bereich erkannt. Stattdessen nennen Expert*innen die psychische Krankheit heute „dissoziative Störung“ oder „histrionische Persönlichkeitsstörung“. Das Krankheitsbild ist ähnlich komplex wie die Fachbegriffe klingen. Häufig beobachtete Symptome sind Egozentrismus und extreme Geltungsbedürfnisse. Mit (laienhaftem) Blick auf die heutige Verwendung des Wortes: Klingt gar nicht mal so anders, oder? Schließlich schwingt mit jedem vermeintlich beschwichtigend gemeinten, an die gestresste Ehefrau gerichteten „Sei doch nicht so hysterisch“ auch der stille Gedanke mit, dass sie gerade vielleicht etwas überreagiert, weibliches Drama veranstaltet.

Und dieser peinliche Teenie-Wettbewerb darum, wer sich am besten selbst inszeniert, wer so laut schreit, dass sie von Shawn Mendes in der Menge erkannt wird – ganz klar egoman, wenn auch auf eine niedliche, mädchenhafte Weise. Weniger niedlich galten als „hysterisch“ gelesene Frauen noch um 1900 herum. Genau genommen wurden sie verteufelt, entwürdigt. In Arthur Schnitzlers Monolog-Novelle „Fräulein Else“ (1924) wird die Protagonistin tatsächlich nur als hysterisch etikettiert, weil sie nach Folgendem strebt: finanzieller Unabhängigkeit, Ehelosigkeit, Kinderlosigkeit, Auslebung sexueller Triebe. Oder kurz: Emanzipation. Heute haben wir es in vielerlei Hinsicht leichter als Else. Die gesellschaftlichen Erwartungen und Vorwürfe sind aber bei weitem nicht abgeebbt, sondern höchstens leiser geworden. Dass Begriffe wie Hysterie fast ausschließlich mit Frauen assoziiert werden, ist Teil des Problems.

Diese Kritik soll kein moralisierendes Plädoyer für eine Eliminierung und Tabuisierung des Wortes sein. Es wäre jedoch ein Schritt in die richtige Richtung, wenn der Begriff – sofern er sich denn wirklich nicht aus dem Wortschatz streichen lässt – auch für cholerische Ehemänner und fanatische Fußballfans verwendet werden würde.


Dieser Text ist in der UnAufgefordert #259 zum Thema „Erwartungen“ im Februar 2022 erschienen.

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