Es gibt bestimmte Orte um und auf dem Campus, die wir alle aus unserem Unialltag kennen. In dieser Rubrik stellen unsere Autor*innen euch ihren ganz eigenen Blick auf diese Gebäude oder Plätze vor. Diesmal befinden wir uns am S-Bahn-Gleis der Nord-Süd Bahn im Bahnhof Friedrichstraße.
Schritte, Rascheln von Rucksäcken, die auf Jacken reiben, Gemurmel, Quietschen von S-Bahn-Bremsen, gedämpfte Bässe aus Kopfhörern – das alles läuft im immer selben Takt. Die Melodie, die man hört und doch nicht hört, abends im Bahnhof Friedrichstraße. Jeden Abend ist alles gleich. Menschen auf dem Weg nach Hause. Alle sind in Eile. Niemand hat Zeit. Die Wartenden wippen mit ihren Beinen so schnell wie ein Technotrack mit 170bpm. Sie rennen die grauen Steinstufen runter oder rempeln einander auf der langsamen Rolltreppe, bei dem Versuch zu überholen, an. Aber es interessiert nicht, wer da wen umrennt oder wer von wem umgerannt wird.
Die Melodie kommt aus dem Takt, die Schritte sind jetzt unregelmäßig, lautes Fluchen und besorgtes Rufen ist zu hören. Die Rolltreppe des untersten Bahnsteig der S-Bahn, hoch zum Mittelschiff des Bahnhofes, fährt nicht mehr. Alles kommt zum Stehen, obwohl die Rolltreppe als Übergang zwischen Nord-Süd- und Ost-West-Bahn eigentlich viel frequentiert ist. Die Rolltreppe ist schnell leer, weil die Leute notgedrungen auf die steinernen Stufen ausweichen, die sie nun hochrennen müssen. Nur am Fuß der Treppe liegt ein Mann. Die Beine nach oben gerichtet, liegt er auf dem Rücken. Er wirkt hilflos und bewegt sich nicht. Sein Kopf ist schon ganz rot, weil das Blut hinein fließt. Offensichtlich kann er nicht aufstehen. Dem Anschein nach ist er ungepflegt: Seine Haare sind fettig und seine Kleidung mit großen Schmutzflecken übersät. Ein ähnlich schmutzig wirkender Mann mit kaputter Kleidung steht unter ihm, torkelt, und redet auf russisch auf ihn ein. Alleine kann er seine Kumpane aber nicht aufrichten.
Die übrigen Menschen auf dem Bahnsteig betrachten die Situation interessiert – endlich passiert mal etwas beim Warten auf die Bahn. Mit der Erkenntnis, dass ein scheinbar betrunkener und ungepflegter Mann dort liegt, verpufft das Interesse genauso schnell, wie es gekommen ist. Unbeteiligt wandert der Blick wieder auf die S-Bahn-Anzeige. Ihre Gesichter spiegeln keine Sorgen, sondern vielmehr wieder die bekannte Ungeduld. Eine junge Frau und ihr Freund sind die einzigen, die sich der beiden Männer annehmen und wohlwollend ihre Hilfe anbieten. Die beiden tragen große Wanderrucksäcke und sind offensichtlich keine Berliner*innen.
Die Situation wird nur von dem kalten Neonlicht des Bahnsteigs beleuchtet. Die Atmosphäre ist angespannt. Ob die Sonne schon untergegangen ist, ist auf dem unterirdischen S-Bahn Gleis nicht auszumachen. Von dem „Le Crobag” gegenüber der Rolltreppe geht unaufhörlich ein Geruch nach frisch Gebackenem aus, ganz so wie sonntagnachmittags bei den Großeltern. Ein großer Bildschirm zeigt im Minutentakt, was in Berlin gerade so wissenswert ist: Morgen regnets, „Paarship” wirbt für schnelles Verlieben und eine neue App sorgt scheinbar für noch mehr Produktivität. Mit ausdruckslosen Augen schauen die Menschen auf die blinkende Wand. Es ist nicht auszumachen, ob sie wirklich lesen, was da steht.
Foto: Jacqueline Kamp