Ständig reden wir von Dingen, die wir ausprobieren wollen und viel zu oft bleibt es bei dem Gedanken. In unserer Rubrik “Einmal im Leben” ändern wir das. Diesmal: freier Fall in das YouTube-Rabbithole. Was passiert, wenn unsere Autorin immer nur den Vorschlägen der Videoplattform folgt?

Das Experiment beginnt auf YouTube. Natürlich habe ich vorher alle Cookies gelöscht und melde mich nicht mit meinem eigenen Account an – dieses Experiment beginnt tabula rasa. YouTube erkennt, dass ich mich in Deutschland aufhalte. Das erste vorgeschlagene Video auf der Startseite ist ein Tagesschau-Patzer. Sehr bezeichnend. Zwischen einer Kompilation von Autounfällen, „Relaxing Whiskey Blues Music (music for gentlemen)” und Fußballmomenten spricht mich besonders dieses Video an: „So leben die 10 reichsten Deutschen privat“. Es ist kurz und verspricht seichte Unterhaltung mit etwas Wissen. Nach dem Anklicken werden mir nur noch Videos über deutsche Promis und Reiche vorgeschlagen, einige von Privatsendern.

Nach kurzem Scrollen finde ich ein seriöses Video in den Vorschlägen. Eine arte-Doku über BlackRock mit dem Titel „Die unheimliche Macht eines Finanzkonzerns“. Ist Friedrich Merz nicht dort tätig? Beim Anklicken werden mir dann fast nur noch arte-Dokus vorgeschlagen. Ich finde aber auch ein Kommentarvideo zu der arte-Doku über BlackRock. Jetzt werden mir fast nur noch Finanzvideos angezeigt, allerdings auch weiterhin kurze Wissensvideos wie am Anfang, sowie Dokus von öffentlich-rechtlichen Sendern. Dazwischen ein Video von MrWissen2go Geschichte über deutsche Dialekte. Wie ist das denn hierhin gekommen?

Algorithmus sagt: BILD und BBQ

Wie auch bei den anderen Videos wird mir in den Vorschlägen vorwiegend dieser Channel empfohlen. Ein Video setzt YouTube mir zum zweiten Mal vor: „Das traurige Leben der schlausten 12-Jährigen der Welt“ von Wissenswert, die auch das erste Video über reiche Deutsche produziert haben. Die Empfehlungen werden nun etwas chaotischer. Neben dem „kuriosen“ oder „verrückten“ Leben verschiedener Menschen tauchen eine Kompilation „guter Taten, die gefilmt wurden“, ein Kurzfilm über Autismus und ein Video mit Übungen gegen Wasser in den Beinen ganz oben in den Vorschlägen auf. Was?

Am interessantesten aber ist ein Video von Sahra Wagenknecht über „Datenchaos, Pflegenotstand, Lauterbach-Mutante“. Mir fällt auf, dass in den Vorschlägen immer mindestens ein Video mit der Kennzeichnung „neu“ zu finden ist. Dem Algorithmus geht es möglicherweise weniger um meine Interessen und mehr darum, neue Videos zu pushen. Langsam wird es interessant. Das Wagenknecht-Video führt mich zu BILD- und WELT-Videos. Aber auch zu den „8 wichtigsten Tipps für Gasgriller“. Der Algorithmus meint, dass Leute, die Wagenknecht gucken, sich gerne mal BILD und BBQ gönnen. Passt ins Bild.

Mein journalistisches Interesse gilt jedoch eher dem BILD-Video über den G7-Gipfel. Das Thumbnail verspricht, der Gipfel sei ein „Schau-Laufen des Versagens“ gewesen. Oute ich mich dem Algorithmus gegenüber damit als regierungskritisch? Mir werden im folgenden hauptsächlich BILD und WELT vorgeschlagen, allerdings auch Videos der Öffentlich-Rechtlichen. Der YouTube-Algorithmus schickt mich also noch nicht erbarmungslos in den Kaninchenbau des Springer-Verlages. Mit einem Scroll erreiche ich ein Video von phoenix, das Alice Weidel im Bundestag zeigt.

Immer die gleichen Vorschläge

Erstaunlicherweise werde ich nicht mit AfD-Beiträgen überladen. Stattdessen werden mir viele Videos vorgeschlagen, die bereits zuvor angezeigt wurden, unter anderem das Wagenknecht-Video, das ich bereits angeklickt habe. Doch dann fällt mir sofort ein Clip auf, für den ich nicht mal scrollen muss. „GRUSELKABINETT: Sind unsere Politiker wirklich so doof?“ von einem „Business Coach“. Das Thumbnail deklariert „POLIT-ZOMBIES“ über einem Bild von Scholz, Baerbock und Lindner. Das ist das erste vorgeschlagene Video, das sich vom Mainstream abhebt – in dem Sinne, dass ich den Kanal nicht als etabliert identifiziere. Nebenbei fällt mir auf, dass ich mit ein wenig Scrollen auch auf einem Video der AfD-Bundestagsfraktion gelandet wäre. Das Wort „inländerfeindlich“ kannte ich vorher auch noch nicht. Man lernt immer dazu.

Ganz oben finden sich wieder einige Videos, die ich schon aus den Vorschlägen kenne. YouTube scheint wirklich daran gelegen zu sein, mir bestimmte Beiträge fast aufzudrängen. Andererseits scheint die Plattform auch mein Leben verbessern zu wollen, da in jeder Vorschlagsrunde auch praktische Videos zu Übungen, Tipps, Handwerk und Garten auftauchen. Gerade soll ich lernen, wie ich meine Tomaten am besten pflege. Vielleicht wird es doch noch was mit meinem grünen Daumen.

Vom „GRUSELKABINETT“ stoße ich schnell auf andere inhaltsbezogene Videos, darunter eines auf Ungarisch zum Ukraine-Krieg sowie den folgenden Knüller von FinanzmarktWelt.de: „Energiekrise: So lacht die Welt über Deutschland!“. Sowohl in diesem als auch im letzten Video zeigt die Kommentarspalte, dass dieser Content sich hauptsächlich an die rechte Ecke richtet. In den obersten zehn Kommentaren findet sich mindestens eine Abwertung Geflüchteter, obwohl das Video auf den ersten Blick nichts mit dieser Thematik zu tun hat.

Edelmetalle und Verschwörungstheorien

Seit dem Wagenknecht-Video, das mir übrigens gerade wieder vorgeschlagen wird, zeigt mir YouTube auch immer wieder „Tichys Ausblick“ an. Roland Tichy hat unter anderem für die WirtschaftsWoche geschrieben und war von 2007 bis 2014 Chefredakteur des Magazins. Auf seinem YouTube-Kanal bezeichnet er sich selbst als liberal-konservativ und kritisiert nicht selten den „rot-grünen Mainstream“. Die Öffentlich-Rechtlichen sind jedoch noch nicht ganz aus meinen Vorschlägen verschwunden. Ohne Scrollen erreiche ich auch dieses Video: „Die NATO hat eiskalt gelogen & muss jetzt bezahlen“. Von einem Channel namens Kettner-Edelmetalle, der seinen Shop, in dem es tatsächlich Edelmetalle zu kaufen gibt, in der Beschreibung verlinkt. Wie passt das denn zusammen?

Ich schaue mir den Kanal genauer an. In der Tat gibt es hier einige Beiträge über Gold und Silber, am präsentesten sind jedoch die politischen Kommentare: „HABECK lässt die BOMBE platzen“, „Der perfide Plan hinter dem Blackout“ und am auffälligsten: „Es gibt eine böse Macht hinter den Regierungen!“. Letzteres ist ein Interview mit einem Ernst Wolff. In dessen Wikipedia-Artikel steht: „Seine oft in sogenannten Alternativmedien veröffentlichten Beiträge mit Kritik an der internationalen Finanzwirtschaft werden als verschwörungstheoretisch und antisemitisch eingeordnet.“ Warum wird dieser Mann von einem Edelmetall-Experten auf YouTube interviewt? Und wer ist dieser Dominik Kettner überhaupt? Zu Dominik Kettner gibt es online so gut wie keine Informationen. Keine Artikel, kein Wikipedia-Eintrag. Ob er wohl mit dem Waffenhersteller Kettner in Verbindung steht? Würde zu Edelmetallen passen, und auch zu einer potentiell rechten Gesinnung. Ich klicke mich durch Google. Das Web verrät mir, dass Waffen-Kettner inzwischen einen Online-Shop mit Outdoor-Utensilien betreibt. Mein Verdacht hat sich also nicht erhärtet.

Oh – ich merke, dass YouTube mich mit nur 10 Klicks in ein verschwörungstheoretisches Rabbithole gestürzt hat. Die Öffentlich-Rechtlichen sind fast völlig aus den Vorschlägen verschwunden, selbst der Springer-Verlag wird nicht mehr vorgeschlagen. Stattdessen gibt es mehrere Videos zum „Great Reset“ und Chemtrails, sowie natürlich weitere „interessante“ Videos des Edelmetall-Experten.

Ohne Aufwand, Suchen oder Scrollen bin ich hier gelandet. Von einem harmlosen Top-10-Video über reiche Deutsche und öffentlich-rechtliche Dokus bin ich bei Schwurbler*innen angekommen. Klar, meine eigene Entscheidung, das auffälligste Video in den Vorschlägen anzuklicken, hat dazu beigetragen – aber machen wir das nicht alle?
Der Algorithmus ist eine feine Sache. Aus einem unbeschriebenen Blatt wird auf YouTube schnell ein vollgekritzeltes Heft, das für niemanden wirklich nachvollziehbar ist. Am Ende sind wir immer nur einen Klick vom nächsten Kaninchenbau entfernt.


Illustration: Céline Bengi Bolkan

Dieser Text ist in der UnAufgefordert #261 zum Thema „www.journalistische-verantwortung.de“ im August 2022 erschienen.